Mucki-Pin-ups: Mit Klebestreifen heftet die jüngste Art-brut-Künstlerin der Ausstellung, Misleidys Castillo Pedroso (geb. 1985) aus Kuba, ihre Muskelfrauen auf Wände.

Foto: Collection Amr Shaker, Genf / Misleidys Castillo Pedroso

Der Geist eines Hohepriesters aus dem antiken Babylon hat ihr die Hand geführt. Davon war Madge Gill überzeugt. An Feen erinnern ihre in Liniennetzen und Ornamenten versponnenen Frauen. Die Zarten scheinen durch ein raumloses Nirwana zu gespenstern, in dem alle Zeiten in eins fallen. In langen Nächten füllte die Britin (1882-1961), deren geradezu manisch kreatives Schaffen der Tod mehrerer Kinder auslöste, meterlange Papierrollen.

Bis aufs Letzte entschlüsseln wird man ihre "individuellen Mythologien" (Harald Szeemann), jene fantastischen Erzählungen der Art-brut-Schaffenden, wohl nie. Aber man kann sie bestaunen. Oder eines der 92 anderen Fantasiereiche, die man nun in der Ausstellung Flying High zu Künstlerinnen der Art brut bereisen kann: Es ist eine schimmernde und funkelnde Schatzkammer, die Kunstforum-Direktorin Ingried Brugger und Hannah Rieger geöffnet haben; mit Namen, die man nie zuvor gehört hat, und oft mit erschütternden Schicksalen hinter Bildern bunter Wunderwelten.

An Tiere – oft etwa an Vögel – erinnern die textilen Objekte der US-Amerikanerin Judith Scott (1943-2005).
abcd / Bruno Decharme collection © Creative Growth Art Center Foto: César Decharme

Die Gugginger Künstler August Walla und Johann Hauser gehören weltweit zu den wesentlichen Exponenten der auch Outsider-Art genannten "rohen und ursprünglichen" (brut, frz.) Kunst. Aber wer kennt das Schaffen der in der gleichen Klinik behandelten Barbara Demiczuk? In ihren expliziten Buntstiftbildern wird sexueller Missbrauch geradezu offensichtlich. Freilich, es gibt Ausnahmefiguren wie die Schweizerin Aloïse Corbaz (1886- 1964). Die von Jean Dubuffet, also dem Erfinder des Konzepts antiintellektueller Kunst, geförderte Corbaz ist der einzige weibliche Superstar der Art brut.

Übersehen oder ignoriert

In den 2000ern begann international eine rege Ausstellungstätigkeit zur Außenseiterkunst. 2013 umarmte man die "Außenseiter" sogar auf der Biennale Venedig und präsentierte sie – ohne entsprechende Etikettierung – gemeinsam mit anderen im Enzyklopädischen Palast. Aber nur wenige Künstlerinnen, darunter die Basquiat und die Street-Art beeinflussende Mary T. Smith, wurden bisher mit Soloausstellungen geehrt. Dass man die weiblichen Vertreter vergessen hatte, war 1997 nicht einmal Ingried Brugger selbst aufgefallen, als sie gemeinsam mit Peter Gorsen Kunst und Wahn kuratierte. Aber es fiel auch sonst niemandem auf. Und es störte wohl auch niemanden.

Bestimmendes Thema in Aloïse Corbaz' Prinzessinnenträumen ist die Liebe: Zu sehen ist sie häufig selbst, ob nun mit dem Kaiser oder als Hauptrolle in anderen dramatischen Amouren – als Cleopatra mit Caesar, Josephine mit Napoleon oder als Österreichs Sisi inklusive Franz. Hier ein Ausschnitt aus dem Bild "Brevario Grimani", um 1950.
apier Sammlung: abcd / Bruno Decharme collection, Foto: César Decharme

Und so ist Flying High auch so etwas wie ihre Wiedergutmachung – eine fulminante, quasi mit kaiserlicher Schleppe: Ganze 14 Meter lang ist nämlich eine Arbeit aus dem von Romantik durchdrungenen, schillernden und erotischen Prinzessinnenkosmos von Aloïse Corbaz. Als Gouvernante am Hof Wilhelms II. steigerte sie sich in eine fiktive Liebesaffäre mit dem Kaiser hinein. Als ihr Hirngespinst wahnhafte Züge bekam, führte das zur Einweisung in die Psychiatrie. Dort entstanden leuchtende "Ich-Asyle" (Brugger), kreative Zufluchten, bis zum Bildrand mit Ornament oder Blumen gefüllt, mit entblößten Brüsten, die Rosenköpfen oder Kamelienblüten gleichen. Männer verkommen neben dieser Opulenz zur schmächtigen Staffage.

Julia Krause-Harder (geb. 1973) hat sich vorgenommen alle 800 bisher entdeckten Dinausaurier mit Fundmaterialien (Kabelbinder, Folien, Watte etc.) nachzubilden. Ein faszinierendes Objekt in der Ausstellung ist neben dem Nanotyrannus (Foto) auch ein Maiasaura, dem sie ganz viele Nachkommen in Form von Bonbonpapier-Sauriern inkorporiert hat.
Foto: Kunstforum Wien

Mit Else Blankenhorn (1873-1920) hätte Corbaz vermutlich Zickenkriege geführt, denn diese hielt sich sogar für die Gattin Wilhelms II. Ihre verträumten Episoden erinnern leise an Chagall oder die Farbigkeit des Blauen Reiters. Brücke-Künstler Ernst Ludwig Kirchner, der nach einem Nervenzusammenbruch im selben exklusiven Nervensanatorium genas, schätzte sie. In Bildnerei der Geisteskranken (1922), jener zur inspirationssprühenden Bibel der Surrealisten werdenden ersten Enzyklopädie der Außenseiterkunst, hätte ihr der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn beinahe ein Kapitel gewidmet. Beinahe. Dann fehlte das Geld für solche Extravaganzen.

Hedwig Wilms (1874-1915) litt unter massiven Angstzuständen und hörte 1913 zu essen auf. Sie muss zwangsernährt werden. Eine Pein, die sie in einem Häkelobjekt verarbeitet.
Foto: Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg

Blankenhorn kam aus gutem Hause und war daher privilegiert. "Im tiefen Keller der Irrenanstalt, war sie ganz oben", so Brugger. Blankenhorn standen daher auch immer Malmittel zur Verfügung. Andere mussten "improvisieren": So zerriss Marie Lieb (1844-?) etwa ihre Leintücher und legte damit Ornamente am Boden aus. Ende des 19. Jahrhunderts schuf sie also bereits eine Rauminstallation. Seiner Zeit voraus scheint auch das bemerkenswerte Objekt, das Hedwig Wilms 1913 schuf: Das Instrument ihrer Peinigung, das Zwangsernährungskännchen, das wie die Kaffeetässchen auf einem Tablett steht, hat Hedwig Wilms 1913 als dreidimesionales Objekt gehäkelt.

Von der Krankenakte zur Kunst

Mit der Kollektion Prinzhorns, der in den Arbeiten erweiterte Krankenakten sah, beginnt die Schau. Sie stellt historische Sammlungen vor (etwa jene, einen Paradigmenwechsel einleitende von Dubuffet) und verdeutlicht mit Werken aus 21 Ländern obendrein, dass der Begriff Art brut heute längst über das in Psychiatrien Geschaffene hinausgeht. Inkludiert sind heute auch die Werke gehandicapter oder "mediumistischer" (von Geistern geführter) Künstlerinnen.

Über Madame Favre ist wenig bekannt. Ihre vom Spiritismus geprägten Zeichnungen – etwa auch dieser Einflüsterer von 1860 – wurden in einem mit "Natural Talent of Mme Favre" betitelten Heft einer Privatbibliothek entdeckt.
Foto: Courtesy Henry Boxer Gallery

Nicht immer sind die Beispiele in diesem Kaleidoskop von so strahlender Farbgewalt wie die mit Stickerei verschmelzenden Blumenschwelgereien Anna Zemánkovás, sie führen auch in die Düsternis und Einsamkeit durchlittener Depressionen und Psychosen: Der mehrgesichtige Alien, den die Österreicherin Ida Maly, ein Opfer der NS-Euthanasie, schuf, könnte einen bis in die Träume verfolgen. (Anne Katrin Feßler, 15.2.2019

Kunstforum Wien, bis 23. 6.