"Petting statt Pershing" skandierten Demonstranten der deutschen Friedensbewegung in den 1980ern. In Geilenkirchen blockierten sie mit einem Sitzstreik eine Zufahrt zu einer Kaserne. Ihr Anliegen, keine atomare Hochrüstung in Europa, mobilisierte die Zivilgesellschaft damals.

Foto: imago/bonn-sequenz

Obwohl das Motto der Münchner Sicherheitskonferenz "Frieden durch Dialog" lautet, wird die Frage einer nuklearen Aufrüstung Europas in den kommenden Tagen im Bayerischen Hof besondere Bedeutung haben.

In Teilen Europas – insbesondere in Deutschland – sind Atomwaffen ein Tabuthema. Das hat vor allem historische Gründe. So sehr sich der Umgang mit der gesellschaftlichen Schuld an Krieg und Genozid in den drei Nachfolgegesellschaften des NS-Staats – BRD, DDR und Österreich – unterschied, wenigstens rhetorisch wurde überall die Forderung "Nie wieder Krieg!" erhoben. In Österreich wurde die immerwährende Neutralität zum nationalen Mythos verklärt.

Seit der Öffnung der Moskauer Archive wissen wir, dass die Neutralität Österreich keine Sekunde lang vor konventionellen wie nuklearen Angriffen beider Seiten beschützt hätte. Davon ahnte die österreichische Öffentlichkeit lange Zeit wenig. Wer heute älter als dreißig ist, kann sich aber vielleicht noch an die Jodtabletten und Strahlenschutzübungen in den Schulen erinnern – genützt hätte das wohl nicht viel.

"Nie wieder Krieg!"

In der BRD war man sich hingegen stets schmerzlich bewusst, dass die Verteidigungspläne der Nato gegen die überlegenen konventionellen Kräfte des Warschauer Pakts den Einsatz taktischer Atomwaffen beinhalteten. Von Westdeutschland wäre bei einem Angriff wenig übrig geblieben. "Nie wieder Krieg!" war für die Bürgerinnen und Bürger der BRD daher stets auch eine Frage des nackten Überlebens.

Letztlich waren es aber gerade die Atomwaffen der Nato in Deutschland, die zum INF-Vertrag – und damit zum Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen – führten und so zur Entspannung der Situation in den 1980er-Jahren beitrugen. Als die UdSSR im vorangegangenen Jahrzehnt moderne atomare Mittelstreckenraketen in Europa stationierte, drohte das "Gleichgewicht des Schreckens" zu kippen. Jeder Ort in Westeuropa konnte nun praktisch ohne Vorwarnung ausgelöscht werden. Der SPD-Kanzler Helmut Schmidt forderte Gegenmaßnahmen. Die Nato beschloss daraufhin eine doppelte Strategie: Die Reagan-Administration bot der UdSSR Abrüstungsverhandlungen an und bereitete gleichzeitig die Stationierung eigener Mittelstreckenraten vor. Diese Bedrohung sollte die UdSSR an den Verhandlungstisch zwingen.

Zivilgesellschaftlicher Widerstand

Gegen den sogenannten Nato-Doppelbeschluss regte sich in Deutschland breiter zivilgesellschaftlicher Widerstand, der 1983 seinen Höhepunkt erreichte und nicht nur für die politische Linke bis heute identitätsstiftend ist. Am 22. November 1983 beschloss der Bundestag die Stationierung atomarer Mittelstreckenwaffen in der BRD, 1987 einigten sich die USA und die UdSSR auf ein Verbot. Der INF-Vertrag war entstanden. Er beendete jenen Konflikt, der das politische Geschehen in der BRD über ein Jahrzehnt dominiert hatte.

Die Zeit des Kampfes um den INF-Vertrag ist in Deutschland noch sehr präsent. Obwohl das Motto "Nie wieder Krieg!" in den letzten Jahrzehnten gegenüber "Nie wieder Auschwitz!" an Bedeutung verloren hat, kann bis heute keine Partei in Deutschland nukleare Aufrüstung fordern und hoffen, gewählt zu werden.

Neue Rahmenbedingungen

Die öffentliche Debatte in Deutschland hinkt den Entwicklungen der Weltpolitik hinterher. Allem öffentlichen Geplänkel zum Trotz ist der Wunsch Russlands und der USA, bei atomaren Mittelstreckenraketen aufzurüsten, in allererster Linie gegen China gerichtet, das nie Teil des INF-Vertrags war und dessen nukleares Arsenal zum Großteil aus solchen Waffen besteht. Gleichzeitig ist Wladimir Putin, der in den 1980ern als Geheimdienstoffizier in der DDR stationiert war, natürlich bewusst, wie tief die Abneigung der Deutschen gegen atomare Mittelstreckenwaffen im kollektiven Gedächtnis verwurzelt ist. Der strategische Vorteil, über solche Waffen zu verfügen, steht in direktem Widerspruch zur politischen Kultur Deutschlands und birgt daher enormes Konflikt- und Spaltungspotenzial.

Dieses Potenzial ist akut, seit die Außenpolitik der USA unter Donald Trump den Europäern signalisiert, dass die Vereinigten Staaten kein verlässlicher Bündnispartner sind. Dazu kommt, dass nach dem Brexit nur noch ein einziger EU-Staat – Frankreich – über eigene Atomwaffen verfügen wird. Diese Karte hat Theresa May in den Brexit-Verhandlungen wiederholt ausgespielt.

Wohin geht Europa?

Frankreich hat in den letzten Jahrzehnten Deutschland mehrmals eine Teilhabe an den französischen Nuklearwaffen angeboten. Deutschland hat dieses Angebot stets ausgeschlagen und wird das auch in Zukunft tun – ein atomar bewaffnetes Deutschland lehnt das Elektorat aus historischen Gründen entschieden ab.

Anders sähe die Sache wohl aus, wenn man die Frage auf die europäische Ebene verlagern würde. Angesichts der weltpolitischen Lage muss daher eine gemeinsame europäische Nuklearstrategie mittelfristig größere Priorität bekommen. Womit europäischen Sicherheitsinteressen am besten gedient ist – Aufrüstung und europäische Kontrolle über den Einsatz von Atomwaffen, Abrüstungsverhandlungen mit Russland oder etwas dazwischen -, soll Europa gemeinsam und frei entscheiden. (Thomas Walach, 15.2.2019)