Ibsens "Gespenster" rezitieren in Leipzig die "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken": Wo geht es hier in die Gegenwart?

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Der Regisseur und sein Double: Philipp Preuss (44).

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Noch der schändlichste Tod gönnt den Betroffenen die letzte Ruhe. In Henrik Ibsens Gespenstern hätten es die Figuren, lauter Syphilitiker und Lebenslügner aus dem vorvorigen Jahrhundert, eigentlich überstanden. Auf der Bühne des Leipziger Schauspiels stehen hohe Holzpaneele, vor ihnen Luxusmöbel aus der Belle Époque. Ein Kameraauge gleitet mit Lauerblick über Klaviersaiten, die ein eiserner, letztlich anonymer Wille gespannt hält. Anonym bleibt er, solange man ihn nicht mit dem Regisseur dieser szenischen Installation identifiziert, Philipp Preuss (44).

Dessen furiose Gespenster sind in Leipzig kürzlich abgespielt worden. Aber sie werden wiederkehren, und sei es nur im Gedächtnis. Das ist so sicher wie die Wiederkunft von Hamlets Vater-Gespenst. Ein paar Schrauben sitzen unverantwortlich locker im Hause Alving. Das Anwesen dreht sich als bürgerliches Spukschloss mit der Bühne und offenbart Symmetrien, die nur dem Hirn eines vom Wahn Geplagten entspringen können.

Witwen und Pastoren

Nach einigen Augenblicken steigt ein offenkundig Halblustiger durchs Fenster ein. Ibsens Witwen und Pastoren unterhalten sich nicht bloß miteinander. Wenn es ans Rezitieren geht, treibt jede(r) von ihnen quälende Gymnastik. Die Damen und Herren pumpen, was das Zeug hält. Die Figuren unterhalten sich nicht nur ausgiebig über die Moral des Alltagslebens. Sie keuchen wie beim Liebesakt. Ibsens Stück scheint dem berühmten Pädagogen Moritz Schreber in die Hände gefallen zu sein.

Als honoriger Arzt unternahm der Leipziger Schreber alles, um in den wurmstichigen Gemütern junger Menschen die "schlechten Keime" durch Körperdrill abzutöten. Prompt verfasste sein Sohn, der nachmalige Senatspräsident Daniel Paul Schreber, die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Zeit, vom Wahnwitz dieser Leipziger Séance überzublenden auf ihren Urheber.

Heimlich, still und gar nicht leise hat sich Regisseur Philipp Preuss emporgearbeitet in die Liga der wirklich kreativen Spielvögte im deutschsprachigen Theater. Wer Preuss bucht, erhält einen ganzen Wunderblock. Der besteht aus Sigmund Freud und Jacques Lacan, aus bildender Kunst (Tony Oursler, Bruce Nauman et cetera) und Jacques Derrida.

Loops und Überschneidungen

An Preuss, dem aus Vorarlberg stammenden Mozarteum-Absolventen, ist ohnehin ein Künstler verlorengegangen. Vor unendlich vielen Jahren – er war noch ein mysteriöser Jüngling – flutete er die Ausstellungsräume eines Bregenzer Kunsthauses mit Fake-Kunstwerken.

Später inszenierte er z. B. an der Berliner Schaubühne. Dort deutete er Thomas Bernhards Autismusroman Das Kalkwerk in Splatter um. Oder er trieb Peter Handkes Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte ... in Braunschweig die Betulichkeit aus. Oder er bat jüngst in Nürnberg die Opfer Macbeths, vollzählig zu erscheinen. In Loops und Überschneidungen kehrt die entscheidende, initiale Bluttat, der Königsmord, immer wieder zu den Tätern zurück.

So gehen Preuss' Figuren auf den Trümmern der Geschichte munter im Kreis herum. Der Regisseur ist der Meinung, sich gegen "unser permanentes Wiedergängertum" nicht anders zur Wehr setzen zu können. Preuss sagt: "Der Neoliberalismus lässt uns permanent das Archiv des Vergangenen durchforsten. Er hält uns in einer medialen, narzisstischen Echokammer gefangen."

Lebensgefühl des Dazwischen

Preuss zuckt die Achseln. Dieses "Lebensgefühl des Dazwischen" zeitigt lauter Formen des Uneigentlichen. Es gibt Retromoden, Retropolitik, Retromusik, Recycling, Upcycling. Nur die absolute Gegenwart verfehlen wir ein ums andere Mal. Es ist – wie es sich für ordentliche Gespenster geziemt – zum Aus-der-Haut-Fahren. Preuss' Theater arbeitet mit Brechungen und Verdopplungen. Er wolle "die Chimäre namens Identität auf dem Theater aufbrechen". Er verficht demgemäß "gerne eine Werk-, keine Texttreue". Er hat die jüngste Uraufführung des phänomenal begabten Vielschreibers Thomas Köck besorgt, Atlas, wieder in Leipzig. Und was soll man sagen: Da haben einander zwei Geisterkönige gefunden.

Eine Enkelin begibt sich auf die Suche nach den Vorfahren. Sie reist von Deutschland nach Saigon und hängt im Transitbereich des Flughafens fest. Eine Parade von Gespenstern hat ihren Auftritt: Vietnamesen, die in der DDR zur Arbeit antraten, deren Kinder, Abkömmlinge der "Boatpeople".

Preuss über die Durchlässigkeit des Textes: "Die vietnamesische Sprache kennt keine Vergangenheitsform." Und so genießen reale und irreale Figuren in diesem Theater Sitz und Stimme. Man könnte auch sagen: Wenn andere das Licht der Vernunft ausknipsen, geht bei Preuss die Theaterwunderlampe erst wirklich an. (Ronald Pohl, 7.2.2019)