Wer nachts nicht schlafen kann, ist morgens gerädert: Dieser Gedanke macht Schlaflosen schwer zu schaffen und verschlimmert den Zustand nur noch.

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Guter Schlaf ist ein Geschenk. Das wissen vor allem jene, die nicht damit gesegnet sind: Statt morgens gut gelaunt und voller Tatendrang aufzuwachen, sind sie kraftlos, unkonzentriert und gereizt. Schläft man dauerhaft zu wenig, wird der Schlafmangel zum beherrschenden Thema. Melatonin, ein körpereigenes Hormon, kommt da wie gerufen: Es gilt als sanftes Schlafmittel mit wenigen Nebenwirkungen. Doch wie gut wirkt das Hormon?

Der Handelsnamen für Melatonin als Medikament ist Circadin, es kann über das Internet bestellt werden. In Amerika ist Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel klassifiziert und kann in jedem Supermarkt gekauft werden. Laut einer US-Regierungsumfrage nehmen gut drei Millionen Amerikaner das Hormon ein, das dort nicht nur als Schlafmittel vermarktet wird, sondern angeblich auch gegen Krebs und Alzheimer hilft. "Melatonin umgibt ein Mythos. Wissenschaftlichen Studien hält er allerdings nicht stand", sagt Dieter Riemann von der Universität Freiburg. Der Schlafexperte war federführend an der Überarbeitung der Leitlinien für Insomnie, also Ein- und Durchschlafstörungen, beteiligt, wobei auch Melatonin beurteilt wurde.

Hell und dunkel

Melatonin wird von der Zirbeldrüse produziert, einem winzigen, kegelförmigen Gebilde in der Mitte des Gehirns. Das Miniorgan steuert die innere Uhr und damit auch den Schlafrhythmus. Wenn es dunkel wird, schüttet die Zirbeldrüse Melatonin aus, das ins Blut strömt und müde macht. Licht drosselt die Melatoninproduktion, und so wird man bei Tagesanbruch wieder munter.

Im Winter, wenn es tagsüber trüb bleibt, ist die Melatoninkonzentration im Blut höher als im Sommer, und auch das Alter spielt eine Rolle: Ältere Menschen weisen einen niedrigeren Melatoninspiegel auf als junge. "Da sich bei älteren Personen auch der Schlaf oftmals verändert – sie schlafen weniger, wachen häufiger auf und schlafen schlechter wieder ein – lag der Gedanke nahe, das Melatonindefizit auszugleichen. So wie ein Diabetiker auch Insulin spritzt", erzählt Riemann. Eine plausible Theorie, die in der Praxis aber nur unzureichend funktioniert, wie die Prüfung zahlreicher wissenschaftlicher Studien erwiesen hat.

"Es gibt Studien, die eine deutliche positive Wirkung zeigen und statistisch hochsignifikant sind: Weil Melatonin die Einschlafdauer von 80 auf 60 Minuten verkürzt. Den Betroffenen bringt das aber herzlich wenig, weswegen wir das nicht bewertet haben", erklärt Riemann. So empfehlen die Leitlinien das Hormon nicht zur Therapie bei Insomnien.

Durchschlafen gestört

"Die Effekte von Melatonin sind zwar klein, das Nutzen-Risiko-Profil ist wegen der geringen Nebenwirkungen aber positiv zu werten", sagt Esther Werth, Leiterin des Schlaflabors an der Klinik für Neurologie am Universitätsspital Zürich, "und manche Patienten können von dem Hormon profitieren: jene, die an einer Schlafrhythmusstörung leiden."

Der Schlafrhythmus ist etwa bei Schichtarbeitenden gestört oder bei Langzeitflügen über mehrere Zeitzonen hinweg, was sich als Jetlag unangenehm bemerkbar macht. "Melatonin hilft, die innere Uhr wieder richtig einzustellen", erklärt Werth. Auch Jugendlichen, die aufgrund der Pubertät manchmal erst um zwei Uhr früh einschlafen, kann die Einnahme des Hormons zu einem geregelten Schlafrhythmus verhelfen. "Allerdings muss das Mittel strikt zeitlich abgestimmt eingenommen werden", betont Werth. Wer hingegen Angst vor einer Prüfung hat und deswegen nicht schlafen kann, dem wird Melatonin nicht zu einer ruhigen Nacht verhelfen.

Wer häufig schlecht schläft, muss das aber nicht hinnehmen. "Bei Insomnien ist die Therapie der ersten Wahl immer die kognitive Verhaltenstherapie", so Werth. Patienten lernen ihre Schlaf-Wach-Phasen zu strukturieren, sich bewusst zu entspannen und nächtliches Grübeln zu reduzieren. "Betroffene kaufen Entspannungstees, Baldrian oder eine neue Matratze, aber es nützt nichts", sagt Riemann. "Mit der Verhaltenstherapie geben wir ihnen Instrumente in die Hand, mit denen sie ihren Schlaf positiv beeinflussen können."

Wann zu Bett gehen?

Tatsächlich ist das Wissen rund um einen gesunden Schlaf, die sogenannte Schlafhygiene, oftmals lückenhaft. "Zu uns kommen Patienten, die sich um 21 Uhr ins Bett legen und mit 70 Jahren erwarten, dass sie bis acht Uhr früh durchschlafen. Das ist illusorisch", sagt Werth. Andere trinken zur Entspannung ein Glas Wein und erreichen damit das Gegenteil. "Einiges ist kontraintuitiv, etwa das Begrenzen der Schlafdauer. Die Leute sind völlig verblüfft, wenn sie hören, dass sie nur sechs Stunden im Bett liegen sollen", so Riemann.

Die Methode wirke bei vielen Menschen gut, so Werth. Wenn sie nicht anschlägt, was vorkommt, kommen schlaffördernde Antidepressiva, eventuell auch Melatonin und "ganz, ganz selten" Schlafmittel infrage. Denn die klassischen Benzodiazepine und auch die so genannten Non-Benzodiazepine machen abhängig. "Die Medikamente kommen deswegen ausschließlich bei einer akuten Störung infrage und sollten nicht länger als drei Wochen eingenommen werden", betont Werth.

Das ideale Schlafmittel existiert somit auch nach jahrzehntelanger Forschung nicht. "Der Schlafprozess ist sehr komplex. Wir verstehen ihn bis heute nicht zu 100 Prozent, und solange können wir auch kein perfektes Schlafmittel entwerfen", sagt Riemann, und Werth fügt hinzu: "Es gibt keinen Schalter im Gehirn, den wir an- und ausstellen können. Da müssen viele verschiedene Gehirnbereiche zusammenspielen, und Melatonin ist nur eine kleine Stellschraube von vielen." (Juliette Irmer, 11.2.2019)