Die eine Frage wurde mir seit einiger Zeit nicht mehr gestellt: In meinem 27. Jahr in diesem Land hat mich niemand gefragt, wo ich mich zu Hause fühle. Jahrelang war die Frage nach der Heimat ein fixer Bestandteil des Kennenlern-Smalltalks.

Die Evolution der Fragerei ging ungefähr so: In den ersten Jahren, solange die Sprache holprig und der Akzent unüberhörbar war, lautete die Frage: "Vermisst du die Heimat?" Ja, das tat ich. Und wie. Später, als die Sätze souverän und der Akzent dezent wurde, fragten sie: "Wo fühlst du dich zu Hause?" "Nirgendwo. Denn das Land, das Heimat war, gibt es nicht mehr", antwortete die abgeklärte Jugonostalgikerin in mir.

Umfragen

Der Österreichische Integrationsfonds bringt jährlich ein interessantes Heft mit Daten und Zahlen zum Thema Migration und Integration heraus. Neben Daten zu Arbeitslosigkeit, Geburtenraten und Bildung der Migranten und Migrantinnen in Österreich werden auch Befragungsergebnisse zum Thema "Wie heimisch fühlen Sie sich in Österreich?" abgebildet.

"Fühlen Sie sich eher dem Land, in dem Sie leben, oder dem Land, aus dem Sie beziehungsweise Ihre Eltern stammen, zugehörig?" Ganze 84,7 Prozent meiner ehemaligen bosnisch-herzegowinischen Landsleute antworteten darauf im Jahr 2018, dass sie sich "Österreich zugehörig" fühlten. Rund 73 Prozent der Kroaten, 68,5 Prozent der Serben und 50 Prozent der Menschen aus der Türkei antworteten mit "Österreich".

Antworten

Ich hätte auf diese schwierige Frage auch nach 27 Jahren in Österreich mit "weder noch" geantwortet. Ich glaube kaum, dass ich mit diesem Gefühl allein bin. Doch diese Antwortoption haben der Integrationsfonds und die Statistik Austria in ihrer Befragung nicht berücksichtigt. Schade.

Schade ist auch, dass die Frage nicht offen gestellt wurde, also etwa in dieser Form: "Wo fühlen Sie sich daheim?" Auf so eine Frage habe ich seit langer Zeit eine Antwort: In Wien, in Ottakring.

Sich mit seiner Stadt, seiner Heimatgemeinde, seinem Grätzl zu identifizieren, ist wesentlich einfacher und naheliegender, als sich auf eine Antwort festlegen zu müssen, die auf etwas sehr Abstraktes wie den Begriff "Nation" oder "Volk" abzielt. Ich bin also jederzeit und immer Wienerin. Österreicherin bin ich wohl nur, wenn ich an meinen Reisepass denke. So geht es vielen Einwanderern der ersten und zweiten Generation.

Am vergangenen Wochenende war ich wieder in Ottakring. Die Ottakringer Straße zwischen Gürtel und Ottakringer Brauerei ist Heimat. Und zwar nicht wegen der vielen Jugo-Cafés, die mich schon als Jugendliche nur selten interessiert haben – ich mag halt keinen Turbo-Folk. Und auch nicht wegen der Pita- und Burek-Buden, denn bei Mama schmeckt's eh besser. Es ist wegen der Erinnerungen aus der Kindheit, als ich meine Eltern in Wien in den Sommerferien besucht habe.

Erinnerungen

Irgendwo zwischen der Nummer 40 und 50 gibt es einen Innenhof, in dem Mitte der Siebzigerjahre meine jungen, lachenden Eltern mit anderen Gastarbeitern um einen Tisch saßen. Ich war nicht dabei, aber es gibt Fotos und Erzählungen davon. Irgendwo rund um die Nummer 65 gab es mal Mitte der 1980er einen Friseur, dessen Portal zwei hohe Spiegel säumten. Stellte man sich in den Eingang, sah man das eigene Spiegelbild in eine unendliche Kolonne vervielfacht.

Nichts duftet so nach Heimat wie der Hefegeruch aus der Ottakringer Brauerei, der sich, wenn der Wind günstig weht, mit dem Duft angebrannter Schokolade aus der Manner-Fabrik mischt. Doch diese Antwort passt in keinen Fragebogen. (Olivera Stajić, 5.2.2019)