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"Heute kommen immer seltener die materiellen Umstände zur Sprache. Stattdessen wird moralisiert."

Bernd Stegemann (51) arbeitet als Dramaturg am Berliner Ensemble. Er ist Mitinitiator der Sammelbewegung "Aufstehen" (u. a. mit Sahra Wagenknecht).

Foto: REUTERS/Axel Schmidt

In seinem neuen Buch Die Moralfalle (Matthes & Seitz) nimmt Bernd Stegemann, Professor an der Berliner Ernst-Busch-Theaterschule, die Sprachspiele der Political Correctness scharf ins Visier. Anstatt die ökonomischen Auswirkungen der Globalisierung zu geißeln, würden von öffentlichen Moralaposteln Sprachverbote erlassen.

STANDARD: Sie kritisieren Vertreter einer Moral, die sich links geben, in Wahrheit aber nur als Parteigänger von Minderheiten reüssieren. Die realen Nöte der sozial Abgehängten sind den Vertretern der Correctness egal. Wer nimmt sich jetzt der Armen an?

Stegemann: Seit Beginn der Aufklärung fragt man doch: Wie findet der Mensch zur Mündigkeit? Er soll imstande sein, seine eigene Lage zu begreifen, um sie danach auf den Begriff zu bringen. Daraus entsteht Öffentlichkeit. Heute müssen wir feststellen, dass immer öfter die Sprache reglementiert wird, statt den Menschen dabei zu helfen, ihre eigene Lage zu reflektieren und ihr Unbehagen darin zu kommunizieren. In meinem Buch kritisiere ich die herrschende Lufthoheit über den Sprachraum. Es kommen immer seltener die materiellen Umstände zur Sprache. Stattdessen wird jede Frage moralisch behandelt.

STANDARD: Sie kritisieren den Postmodernismus für seine Tendenz, die Realität abzuschaffen: Die Wirklichkeit existiert nicht, sie ist nur die Folge von Interpretationen. Hat linke Kritik nicht schon früher ein solches Vorgehen unter Ideologieverdacht gestellt?

Stegemann: Linker Politik sollte es darum gehen, konkret zu begreifen, welche Verstellungen im Sprechen welcher Position in der Hierarchie nutzen. Das wäre Ideologiekritik im Sinne von Marx: Die herrschenden Ideen sind die Ideen der Herrschenden. Der Sprachduktus, in dem Realität beschrieben wird, stellt ein bestimmtes Bild von Realität her. Schaut man auf unsere Gegenwart, so erkennt man, dass das politische Sprechen heute vor allem auf die anerkennungspolitische Ebene zielt. Angestimmt wird ein moralisches Register. Dadurch werden aber allzu oft die materiellen Fragestellungen ausgeblendet.

STANDARD: Die Verfechter der Political Correctness wären demnach so etwas wie nützliche Idioten? Weil ihre Art der Sprachpolitik die wahren Besitzverhältnisse unangetastet lässt?

Stegemann: Im Gegenteil, die sind sehr clever. Wenn man sich in Deutschland die Wähler der Grünen anschaut, so haben sie das höchste Durchschnittseinkommen, höher sogar als das der FDP-Wähler. Die grünen Politiker blasen aber am lautesten in die Moraltrompete. Diese Partei vertritt also klassenpolitische Interessen und verteidigt ihre Privilegien innerhalb der Hierarchie des Arbeitsmarkts, indem sie die Moral als Waffe verwendet, mit der sie ihre Kritiker einschüchtern kann.

Bevorzugt durch Sprache? Nicht materielle Nöte stehen im Mittelpunkt der Identitätspolitik, sondern Anliegen der symbolischen Wahrnehmung (im Bild: die "dritte Option" neben Mann und Frau).
Foto: APA/dpa/Peter Steffen

STANDARD: Was wären Werthaltungen, die eine neue linke Politik anleiten? Axel Honneth vertritt etwa eine Idee des Sozialismus, der sich wieder stärker einem gemeinschaftsbildenden Ideal von Freiheit verpflichtet fühlt.

Stegemann: : Es gibt viele Facetten einer sozialen Aufklärung. Honneth betreibt, wie er selbst ausführt, Anerkennungspolitik: Jeder soll sich wertgeschätzt fühlen und in seiner Einzigartigkeit anerkannt werden. Gleichberechtigung ist als Wert linker Politik völlig unbestritten. Doch wie komme ich dazu, dass dieser Wert eine allgemein anerkannte Realität wird? Man muss es ja leider immer wieder mit Brecht sagen: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Wenn die Menschen keinen harten Nöten ausgesetzt sind, sondern in gesicherten Verhältnissen leben, dann sind sie auch sehr viel eher bereit, allen anderen gegenüber tolerant zu sein. Die Verhärtungen in der Kommunikation resultieren oft daraus, dass viele Menschen erleben, wie sie von der Gesellschaft keine Solidarität mehr erfahren. Stattdessen werden sie gegängelt.

STANDARD: Auf der materiellen Ebene?

Stegemann: Der Neoliberalismus hat sehr viel dafür getan, dass die Arbeitswelt fast komplett entsolidarisiert ist. Auf moralischer Ebene wird aber unentwegt gepredigt: Ihr müsst gute Menschen sein! Dieser Widerspruch führt zu Unmut. Die Benachteiligten fordern ihr Recht. Verschafft uns gesicherte Lebensbedingungen, dann sind wir auch entspannt im Umgang mit den anderen! Wenn man aber die sozialen Daumenschrauben anzieht und zugleich verlangt, keiner möge aus der Reihe tanzen – dann fangen immer mehr an zu revoltieren. Und das geschieht nicht selten allein aus Protest gegen eine solche Doppelmoral.

STANDARD: Was bleibt zu tun, um sich einen realistischen Begriff von der Welt zu machen?

Stegemann: Wie Rosa Luxemburg einst gemeint hat: Die revolutionäre Tat besteht darin, laut zu sagen, was ist. Es gilt, eine möglichst treffende Beschreibung der herrschenden Verhältnisse zu liefern. Zum anderen darf man sich von den Vertretern des moralischen Diskurses die Sprache nicht wegnehmen lassen, indem man sagt: "Dieses oder jenes dürfen wir überhaupt nicht ansprechen, denn es hilft den falschen Kräften im Land ..."

STANDARD: Die berühmte Aussage: Der kleine Drogendealer an der Ecke ist Asylwerber. Diese Tatsache darf ich aber nicht ansprechen, weil das den falschen politischen Kräften nützen würde.

Stegemann: Eine solche Denkweise ist ein Holzweg, da sie die linke Wahrnehmung zensiert. In der Konsequenz bleiben nur noch rechte Erzählungen übrig. Und dann muss sich niemand wundern, wenn die rechtspopulistschen Parteien immer mehr Zulauf erhalten.

STANDARD: Ist die Überwindung der Nation ein geeignetes Mittel, um Politikfelder wie die Abschaffung von Ungleichheit neu zu bearbeiten? Bietet die EU eine Perspektive für Sozialpolitik?

Stegemann: Das Ziel ist natürlich eine internationale Verflechtung. Aber eine solche darf nicht bloß eine Internationalisierung der Kapitalströme meinen. Wer nur den Warenverkehr im Blick hat, der setzt den Geburtsfehler der EU fort. Die war ja von Anfang an eine Wirtschaftsunion. Alle Fragen, die auftauchen, werden ökonomisch behandelt, aber das reicht heute nicht mehr. Das Monster der Globalisierung muss zurück in den Käfig. Und dazu braucht es starke Staaten, die etwa auch Google dazu zwingen, Steuern abzuführen. Solange die Anzahl der Lobbyisten in Brüssel zehnmal so hoch ist wie die der Abgeordneten, besteht wenig Hoffnung. (INTERVIEW: Ronald Pohl, 3.2.2019)