Sabina Riss: "Es ist ein Prozess, und er ist bis heute nicht abgeschlossen."

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Gegenentwurf zum männlichen Schöpfer: Architektin Friedl Dicker-Brandeis (1898-1944).

Foto: Ulrike Müller

STANDARD: Wir befinden uns hier im Roten Salon des Hotel Altstadt Vienna.

Riss: Der Raum wirkt schön, warm, gemütlich.

STANDARD: Er wurde von der Kärntner Innenarchitektin Thesi Treichl gestaltet. Oft wird die Frage gestellt, ob Frauen anders planen und entwerfen als Männer. Nervt Sie diese Frage?

Riss: Diese Frage wird immer wieder gestellt, denn die Menschen interessieren sich dafür, ob Frauen anders denken, anders gestalten, Prozesse anders leiten oder vielleicht subtiler und differenzierter an eine Bauaufgabe herangehen als Männer.

STANDARD: Und? Haben Sie eine Antwort darauf?

Riss: Frauen sind in ihrer Gruppe genauso heterogen wie Männer. Ich denke, dass jede Kategorisierung sofort Gefahr läuft, zu einem Klischee zu werden. Aber ich muss sagen: Aus dem Bauch heraus hätte ich die Gestaltung dieses Raumes einer Frau zugeschrieben.

STANDARD: Sie selbst beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit Feminismus und Frauen im Berufsfeld. Ihre Doktorarbeit 2017 befasst sich mit der Impulsgebung von Frauen im Wohn- und Städtebau des 20. Jahrhunderts. Gibt es denn so etwas wie einen weiblichen Impuls in der Planung?

Riss: Beginnen wir mit dem männlichen Impuls! Der österreichische Wohnbau der Nachkriegszeit wurde über viele Jahrzehnte schematisch und oberflächlich abgehandelt. Bedürfnisse und Zusammenhänge zwischen Raum, Wohnung, Gebäude und Wohnumfeld haben kaum Beachtung gefunden. Frauen haben sich dieser Bauaufgabe etwas differenzierter, etwas tiefgreifender gewidmet und haben in ihren Projekten – das kann man wissenschaftlich belegen – die Wohnbedürfnisse der Gesellschaft besser und umfassender abgedeckt.

STANDARD: Wir sind schon mitten im Thema. Wie erklären Sie sich die seit Jahrzehnten thematisierte Dualität und Konkurrenz von Mann und Frau in der Architektur?

Riss: Gute Frage! Ich denke, das liegt an der Tatsache, dass der Prototyp des Architekten immer schon männlich war. Ab dem 19. Jahrhundert wurden Ziviltechniker in ihrer Beurkundungsautorität Staatsorganen gleichgestellt. Otto Wagner, Adolf Loos, Le Corbusier, das Bauhaus und auch die Darstellung des Architekten in den Hollywoodfilmen ... all das stärkt das männliche Architektenbild. Der Allwissende als Schöpfer. Dem gegenüber steht die Architektin, die Anfang des 20. Jahrhunderts plötzlich in die Männerdomäne eindringt.

STANDARD: Österreich feiert heuer ein 100-Jahr-Jubiläum. Kommt das früh oder spät?

Riss: 1919 hat die Technische Hochschule Wiens zum allerersten Mal ordentliche Hörerinnen aufgenommen. Das ist die Geburtsstunde der Architekturausbildung für Frauen in Österreich. Aber in gewisser Weise kommt dieses Jubiläum auch reichlich spät, denn in England, den Niederlanden und Deutschland konnten Frauen schon ab 1900 studieren.

STANDARD: Worauf ist die späte Öffnung in Österreich zurückzuführen?

Riss: Ich sehe die Gründe dafür in der kulturellen, religiösen und gesellschaftspolitischen Verfasstheit der Monarchie und der damit verbundenen Rolle von Frauen. Ganz im Gegensatz zu osteuropäischen Ländern, in denen die Frau im Berufsleben von jeher eine selbstverständlichere Position hatte.

STANDARD: Wie war denn der Start für Architektinnen in diesem Land? Können Sie uns ein kurzes Stimmungsbild dieser Zeit skizzieren?

Riss: Die männliche Domäne dürfte die ersten Architektinnen wie etwa Liane Zimbler, Helene Roth, Ella Briggs-Baumfeld, Friedl Dicker-Brandeis und Margarete Schütte-Lihotzky als große Gefahr wahrgenommen haben. Es war eine Zeit voller Ressentiments. Man hat sehr darauf geachtet, die Frauen in assistierenden Positionen einzusetzen und ihnen kleinere, dekorative und gestalterische Arbeiten zuzuteilen. Hochbau und die direkte Auseinandersetzung mit dem Bauherrn blieb dem Mann vorbehalten.

STANDARD: Gab es Unterstützung von den Interessenvertretungen?

Riss: Ganz im Gegenteil! Lange Zeit wurde auf offizieller Seite gegen den kulturellen Umbruch angekämpft. In der Monatszeitschrift der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs ist 1933 zu lesen: "Um als Architekt guter Berater und Anwalt des Bauherrn zu werden, ist Originalität, Aggression, Strenge und Brutalität notwendig. Frauen sollen sich auf schöpferische und hauswirtschaftliche Inhalte beschränken." Ich denke, das sagt alles.

STANDARD: Wie hat sich die öffentliche Hand dazu positioniert?

Riss: Das lässt sich ganz gut in Zahlen fassen: Im Roten Wien wurden 379 Gemeindebauten mit insgesamt 60.000 Wohnungen errichtet. Unter den Planern gab es mehr als 190 Architekten – aber nur zwei Architektinnen, nämlich Ella Briggs-Baumfeld und Margarete Schütte-Lihotzky.

STANDARD: Wann hat sich die Situation gebessert?

Riss: Es ist ein Prozess. Und er ist bis heute nicht abgeschlossen.

STANDARD: 80 Prozent aller befugten und registrierten Architekturschaffenden in Österreich sind heute Männer. Mit lediglich 20 Prozent Frauenquote ist Österreich europäisches Schlusslicht.

Riss: Eine dramatische Zahl, oder? Und das, obwohl wir wissen, dass mehr als 50 Prozent aller Architekturabsolventen Frauen sind! Das Phänomen ist leider nicht nur ein österreichisches, sondern ein internationales. In den USA gibt es die Forschungs- und Vermittlungsinitiative "The Missing 32%: Where Are the Women Architects?".

STANDARD: Und? Wo sind diese 32 Prozent geblieben?

Riss: Gemeinsam mit Silvia Forlati und Anne Isopp habe ich vor vier Jahren eine Studie unter dem Titel "Vereinbarkeit von Architekturberuf und Familie" gemacht. Dabei hat sich gezeigt, dass die Rahmenbedingungen wie Prekariat, lange Arbeitszeiten, schlechte Bezahlung und geringe Karriereperspektiven nicht sehr attraktiv sind. Tatsache ist: Selbstständig tätige Frauen haben vergleichsweise kleinere Büros, die mit kleineren Aufträgen und Einkommen einhergehen.

STANDARD: Dem gegenüber stehen Länder wie etwa Litauen, Kroatien und Bulgarien, in denen der Frauenanteil unter den Selbstständigen 50 bis sogar 65 Prozent beträgt.

Riss: Da spielt sicher die kommunistische Vergangenheit mit. Wir wissen, dass in den Ostblockländern Frauen in der Gesellschaft eine selbstverständliche Rolle als Arbeitskraft einnahmen. Frauen wurden mit großen Projekten betraut und waren in leitenden, öffentlichen Funktionen tätig. Diese Arbeitskultur wirkt bis heute nach.

STANDARD: Was müsste passieren, um das österreichische Ungleichgewicht auszugleichen?

Riss: Es ist ein sehr komplexes System. Auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene müsste man an vielen kleinen Schräubchen drehen.

STANDARD: Sie sind nicht nur Wissenschafterin, sondern arbeiten selbst auch als Architektin. Kommen da nie Emotionen hoch?

Riss: Manchmal. Meist gelingt es mir, eine gesunde Distanz zu wahren und die Energie zu bündeln. Mit meinen Studierenden an der TU Wien widme ich mich der Frage, welchen Beitrag wir alle leisten können, um eines Tages Gender-Equality zu erreichen. Mein Wissen ist eine Verantwortung, damit konstruktiv umzugehen. (Wojciech Czaja, 2.2.2019)