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Im Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, hier der Sitzungssaal der Richter, wird jedes Jahr über dutzende Vertragsverletzungsverfahren verhandelt.

Foto: Reuters / François Lenoir

Von Anfang an war das Gesetz umstritten: Kaum hatte der österreichische Nationalrat im Herbst die Indexierung der Familienbeihilfe beschlossen, drohte die EU-Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren. Seit Jahresbeginn ist das Gesetz nun in Kraft. Die Familienbeihilfe für im EU-Ausland lebende Kinder wird ans Preisniveau vor Ort angepasst, Brüssel fürchtet Diskriminierung. Am Donnerstag leitete die EU-Kommission ein Verfahren gegen Österreich ein.

Derzeit ist aber auch oft von den Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags die Rede, wie sie gegen Polen und Ungarn anhängig sind. Kann man die beiden Arten von Verfahren miteinander vergleichen? Man kann – gerade weil es vor allem Unterschiede gibt.

Frage: Wie oft kommt es eigentlich zu Vertragsverletzungsverfahren gegen einzelne EU-Mitgliedstaaten?

Antwort: Ziemlich oft. Mit Stand Mittwoch waren allein gegen Österreich 66 Verfahren anhängig – nur vier weniger als gegen Polen, dessen Konflikte mit Brüssel häufig Stoff für Schlagzeilen liefern. Deutschland, das größte EU-Land, hat 80 anhängige Fälle.

Frage: Worum geht es bei diesen Verfahren in der Regel?

Antwort: Vertragsverletzungsverfahren drohen immer dann, wenn der Verdacht besteht, dass ein Staat EU-Regeln nicht korrekt anwendet. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn durch die nationale Rechtslage heimische Unternehmen gegenüber konkurrierenden Branchenkollegen aus anderen Mitgliedsländern bevorzugt werden. Die Themenpalette ist aber noch sehr viel breiter: Jagdgesetze, Rechte von Minderheiten, Umweltpolitik, Finanzdienstleistungen oder Nahrungsmittelsicherheit: Wo EU-Regeln gelten, können auch Verstöße sanktioniert werden.

Frage: Wie läuft ein Vertragsverletzungsverfahren ab?

Antwort: Es gibt zwei Phasen: Zunächst wird ein administratives Verfahren eröffnet, das zwischen der Europäischen Kommission und dem jeweiligen Mitgliedstaat läuft. Letzterer wird auf die vermuteten Verstöße aufmerksam gemacht, kann zu den Vorwürfen Stellung nehmen oder beanstandete Mängel beseitigen. Wird keine Lösung gefunden, kommt das Verfahren vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Frage: Welche Sanktionen drohen bei einer Verurteilung?

Antwort: Das Unionsrecht sieht empfindliche Geldstrafen vor. Bei ihrer Bemessung werden unter anderem die Wirtschaftsleistung des Staates sowie Schwere und Dauer des Verstoßes berücksichtigt.

Frage: Worin besteht nun der Unterschied zum Artikel-7-Verfahren?

Antwort: Laut EU-Vertrag gründet sich die Europäische Union auf "Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte". Über eine schwerwiegende Verletzung dieser Prinzipien entscheidet aber nicht der EuGH, sondern eben das Artikel-7-Verfahren – ein komplexer Mechanismus, in den der Europäische Rat, die Kommission und das Parlament eingebunden sind. Schließlich geht es dabei um umfassende politische Vorwürfe und nicht um die Verletzung einer einzelnen Rechtsnorm.

Frage: Welche Sanktionen sind beim Artikel-7-Verfahren vorgesehen?

Antwort: Das Instrument gilt als schärfste Waffe der EU. Dem betroffenen Mitglied droht der Entzug des Stimmrechts im Rat. Die Verletzung der Grundwerte muss dazu aber von den anderen Mitgliedern einstimmig festgestellt werden – eine sehr hohe Hürde.

Frage: Wie viele Artikel-7-Verfahren sind derzeit anhängig?

Antwort: Nur zwei – die ersten in der Geschichte der EU: Jenes gegen Polen hat die Europäische Kommission wegen der dortigen Justizreform aus Sorge um die Unabhängigkeit der Gerichte vorgeschlagen. Im Fall Ungarns ging die Initiative vom Europäischen Parlament aus. Auch hier geht es um die Justiz, aber auch um das Vorgehen der Regierung gegen NGOs oder angebliche Verstöße gegen die Rechte von Migranten.

Frage: Es gibt also keinerlei Überschneidungen zwischen Artikel-7-Verfahren und Vertragsverletzungsverfahren?

Antwort: Einzelne Aspekte eines Artikel-7-Verfahrens können natürlich auch in Vertragsverletzungsverfahren auftauchen. Bei einem EuGH-Urteil zur Pensionierung polnischer Höchstrichter ist kürzlich genau das passiert. Akteure in einem Artikel-7-Verfahren werden die Ansicht des EuGH zu einer verwandten Causa wohl nicht ignorieren. Direkte Zusammenhänge zwischen beiden Verfahren gibt es jedoch nicht. (Gerald Schubert, 24.1.2019)