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Eine deutsche Studie analysierte die Berichterstattung von sechs Medien am Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/16 – diese Aufnahme wurde am 1. Dezember 2015 in Berlin gemacht.

Foto: Reuters/FABRIZIO BENSCH

Mit dem Begriff "Lügenpresse" hat Pablo Jost so seine Probleme: "Er ist dem NS-Vokabular entliehen, wir sollten uns tunlichst dagegen wehren, diesen Begriff salonfähig zu machen." Dass eine Studie, die Jost kürzlich mit Kollegen am Institut für Publizistik der Universität Mainz publiziert hat, dennoch den Titel "Auf den Spuren der Lügenpresse" trägt, hat pragmatische, nicht zuletzt aber wissenschaftliche Gründe: "Dieser Vorwurf stand nun einmal im Raum." Nicht nur bei der rechten Pegida ist der Begriff seit Jahren omnipräsent, wenn die Demonstranten wieder einmal "Lügenpresse" skandieren – nicht selten mit dem Zusatz "Halt die Fresse" –, er hält auch bei vielen anderen Einzug in den Sprachgebrauch.

Denn: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung war laut Umfragen der Ansicht, dass die Massenmedien im Zuge der Flüchtlingskrise 2015/16 Fakten zu Geschlecht und Alter sowie zur Kriminalität von Zuwanderern falsch darstellten. Falsch heißt verzerrt: "Einseitig positiv."

Die Fakten stimmten

Fragen zur Richtigkeit und Ausgewogenheit der Berichterstattung in der Flüchtlingskrise gingen Jost und seine Kollegen mittels quantitativer Inhaltsanalyse auf den Grund. Sie analysierten dazu 4.726 Beiträge in drei deutschen Tageszeitungen sowie drei Fernsehnachrichtensendungen zwischen Mai 2015 und Jänner 2016. Josts Konklusio: "Der Lügenpresse-Vorwurf kann nicht aufrechterhalten werden." Die Medien stellten die relevanten Fakten demnach überwiegend korrekt dar.

Was Jost und sein Team konstatierten, ist Einseitigkeit: "Sie fiel aber nicht durchweg zugunsten der Zuwanderer aus", sagt Jost im Gespräch mit dem STANDARD. "Die Studie zeichnet ein differenziertes Bild." Auf der einen Seite wurden Flüchtlinge als Individuen tendenziell positiv dargestellt, während auf der anderen Seite die Auswirkungen von Zuwanderung auf die Gesellschaft in ein überwiegend negatives Licht gerückt wurden.

Ausgewogenes Geschlechterverhältnis

Wenn Flüchtlinge in den Medien sind, geht es meist um Frauen und Kinder. Ihre Geschichten werden überproportional oft thematisiert, obwohl der Großteil der Zuwanderer junge Männer sind. So lautet ein Kritikpunkt, mit dem Medien in Deutschland, aber auch in Österreich sehr häufig konfrontiert sind. Legt man die Berichterstattung der Tageszeitungen "Frankfurter Allgemeine" ("FAZ"), "Süddeutsche" und "Bild" sowie der Nachrichtensendungen ARD-"Tagesschau", ZDF-"Heute" und "RTL Aktuell" zugrunde, dann ist dieser Vorwurf falsch. Zu diesem Schluss kommt die Studie.

Die deutsche Asylstatistik zeigt, dass etwas mehr als die Hälfte der Zuwanderer am Höhepunkt der Fluchtbewegungen im Jahr 2015 männliche Erwachsene waren. Erwachsene Frauen machten etwas weniger als 20 Prozent aus, die restlichen 30 Prozent waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Dieses Verhältnis spiegelt sich in den Beiträgen der sechs untersuchten Medien über Zuwanderer beinahe exakt wider – in Wort und Bild. "Der Vorwurf der Verzerrung ist ungerechtfertigt", resümiert Jost.

Soziodemografie der Zuwanderer und ihre Darstellung in den Medien.
Grafik: Universität Mainz

Meiste Berichte über Syrer

Nimmt man die Herkunftsländer der Einwanderer als Maßstab, manifestierten sich auch hier nur geringe Differenzen zwischen der deutschen Asylstatistik und der Medienberichterstattung. "Syrer waren sowohl in der Asylstatistik (36 Prozent) als auch in der Medienberichterstattung (40 Prozent) die mit Abstand häufigste Bevölkerungsgruppe", schreiben die Studienautoren.

Grafik: Universität Mainz

"Tagesschau" der ARD als Ausnahme

Eine Ausnahme bildete die "Tagesschau" der ARD: Hier wurden verbal deutlich häufiger Frauen und Kinder (64 Prozent) als Männer (37 Prozent) thematisiert. Zugleich waren auch auf den Fernsehbildern überwiegend Frauen und Kinder (54 Prozent) zu sehen. Für einige rechte Medien in Deutschland war dieser Aspekt der Studie ein gefundenes Fressen, um die Studienergebnisse für ihre Propaganda zu instrumentalisieren und der ARD Manipulation zu unterstellen. Zu Unrecht, sagt Jost: "Für mich ist das kein Hinweis, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk bei der Berichterstattung über die Flüchtlingskrise versagt hätte."

Die Berichterstattung über Flüchtlinge und insbesondere Aspekte der Kriminalität müssten in zwei Phasen betrachtet werden, erklärt Jost. Im Jahr 2015 fiel der Fokus auf Zuwanderer im Vergleich zur üblichen Kriminalitätsberichterstattung vergleichsweise gering aus, was sich allerdings mit den Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 schlagartig änderte.

Flüchtlingskriminalität

Allein im Jänner 2016 berichteten die sechs Medien 196-mal über Flüchtlingskriminalität (26 Prozent aller Beiträge). Zieht man die Beiträge ab, die jene Vorfällen in Köln thematisierten, berichteten die Medien in diesem Monat noch immer fast genauso häufig über andere Fälle von Flüchtlingskriminalität (86 Beiträge) wie im gesamten Jahr 2015.

Bis in den Herbst 2015 dominierten beinahe ausschließlich positive Bewertungen das Bild von Zuwanderern. Nach einer Delle im November 2015 ließen die Vorfälle zu Silvester die mediale Stimmung endgültig ins Negative kippen. "So ein Schlüsselereignis hat Strahlkraft auf die Berichterstattung, die folgt. Der Journalismus bekommt einen anderen Fokus, die Aufmerksamkeit wird verschoben", so Jost.

Grafik: Universität Mainz

Fokus auf Sexual- und Gewaltverbrechen

Interessant ist, dass sich die "Berichterstattung bereits 2015 vor allem auf Gewalt- (74 Prozent) und Sexualdelikte (15 Prozent) konzentrierte, während sie Eigentumsdelikte weitgehend ignorierte (7 Prozent). Tatsächlich registrierte die Kriminalitätsstatistik aber vor allem Eigentumsdelikte von Zuwanderern (71 Prozent), Gewaltdelikte machten 28 Prozent, Sexualdelikte sogar nur ein Prozent aus", heißt es in der Studie.

Die Studienautoren destillierten große Unterschiede zwischen den einzelnen Medien: In der "Bild "(minus 3 Prozent) gab es im gesamten Untersuchungszeitraum etwa gleich viele positive wie negative Bewertungen der Zuwanderer. "FAZ" (plus 16 Prozent) und "Süddeutsche" (plus 26 Prozent) berichteten überwiegend positiv, vor allem die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender (plus 73 bzw. 75 Prozent) stellten Zuwanderer fast ausschließlich positiv dar.

Grafik: Universität Mainz

Zuwanderung: Chance oder Risiko?

Neben der Bewertung der Zuwanderer fließt mit der Bewertung der Zuwanderung als abstraktem gesellschaftlichem Prozess, der Chancen oder Gefahren birgt, ein weiterer Indikator in die Analyse ein. So kann Zuwanderung als Chance gesehen werden, weil sie etwa der Überalterung der deutschen Bevölkerung entgegenwirkt oder als kulturelle Bereicherung gesehen wird, aber auch als Gefahr, weil sie beispielsweise Druck auf den Arbeitsmarkt ausübt oder die Kriminalität steigen lässt.

Wenig Ausgewogenheit

In der Studie heißt es: Nur ein sehr kleiner Teil (8 Prozent) der insgesamt 1.460 Beiträge, die Zuwanderung als Chance oder Gefahr thematisierten, war in sich ausgewogen. In den übrigen Beiträgen wurde die Zuwanderung bei weitem überwiegend als Gefahr dargestellt. Das galt insbesondere für "Bild" (Saldo minus 62 Prozent) und das ZDF (minus 59 Prozent). Am wenigsten stark war dies in der "Süddeutschen Zeitung" ausgeprägt (minus 34 Prozent).

Die "Bild" nahm die Ergebnisse der Studie zum Anlass, um zu titeln: "Wissenschaftliche Studie: Flüchtlingsberichte von 'Bild' ausgewogen". Dieser Interpretation kann Jost nichts abgewinnen. Bei überwiegend negativen Artikeln könne von Ausgewogenheit keine Rede sein: "Die Ergebnisse sind keine Absolution für die 'Bild'-Zeitung."

Doppelte Einseitigkeit

Generell lässt sich bilanzieren: "Es existiert hier eine Dualität. Das wirkt für Leser inkonsistent, widersprüchlich", so Jost. "Wir haben eine Einseitigkeit, wenn wir nur die Porträts über die Zuwanderer zu Beginn der Flüchtlingskrise als Indikator nehmen. Betrachten wir aber parallel dazu den Frame, dass die Zuwanderung kontinuierlich als Gefahr dargestellt wurde, dann wiegt sich das gegenseitig auf. Also eine Art doppelte Einseitigkeit." Bei der Frage nach den Gründen der widersprüchlichen Darstellung muss sich der Wissenschafter auf das "Terrain der Mutmaßungen" begeben: "Einzelschicksale der Zuwanderer stellen sich eher positiv dar. Man kann ihnen schlecht das Recht auf Hilfe absprechen. Bei der Zuwanderung als abstraktem Thema kommen dann gesellschaftliche Probleme aufs Tapet."

Mit welchem Tenor Österreichs Medien in der Flüchtlingskrise berichtet haben, darüber existieren keine genauen Zahlen. Die Ergebnisse wären wohl ähnlich, vermutet Jost, auch aufgrund der Parallelen der Medienlandschaft: "Es gibt für mich keinen Anlass zu glauben, dass sich die Berichterstattung gravierend unterscheidet." (Oliver Mark, 24.1.2019)