Wien – Seit genau einem Jahr – dem 22. Jänner 2018 – wird die in Wien lebende 22-jährige Jennifer Scharinger vermisst. Damit betrifft sie eine der rund 11.000 Abgängigkeitsanzeigen, die im Vorjahr in Österreich erstattet wurden. Und Scharinger ist eine Ausnahme: Pro Jahr werden nur etwa zehn Fälle nicht gelöst. 97 Prozent der Fälle klären sich innerhalb des ersten Monats wieder auf.

Doch für die Angehörigen ist vor allem die Ungewissheit furchtbar, wie Stefan Mayer, Leiter des Kompetenzzentrums für abgängige Personen (KAP) im Bundeskriminalamt (BK), am Dienstag erläuterte. Das KAP wurde im Herbst 2013 ins Leben gerufen, und eine der wichtigsten Aufgaben ist der Kontakt mit den Angehörigen vermisster Personen.

Seher und Privatdetektive

Gerade in diesem Zusammenhang bemerkenswert ist einer der ersten Fälle für Mayer und seine Kollegen. Das Verschwinden einer damals 40-jährigen ungarischen Hotelangestellten in Heiligenblut am Fuße des Großglockners am 4. September 2013 löste vor allem für die Schwester der Frau einiges aus. Mehrere Suchaktionen nach der leidenschaftlichen Wanderin blieben ergebnislos. Gerade das Gelände in unmittelbarer Nähe des Betriebs, in dem sie arbeitete, ist sehr unwegsam und daher kaum für Suchaktionen geeignet. Ein Unfall gilt als überaus wahrscheinlich.

Bei der Schwester meldeten sich – wie in solchen Fällen oft gang und gäbe – neben Sehern auch Privatdetektive, die ihr – ohne dafür Fakten zu liefern – einredeten, die italienische Mafia hätte sie gekidnappt und in Rotlichtbetrieben zur Prostitution gezwungen. Unsummen gab die Frau aus, ohne jeden Erfolg. An einen Unfall glaubt sie noch immer nicht. "Solange nichts gefunden wird, lebt die Hoffnung", sagte Mayer. "Das Schlimmste ist, nichts zu wissen." Doch welche Geschichte sich auch hinter einem Vermisstenfall verbirgt, für die KAP-Mitarbeiter gilt: "Professionalität zu vermitteln ist besonders wichtig."

Nach drei Jahren wieder aufgetaucht

"Alles ist möglich": Nach diesem Motto gehen die Experten des KAP an jeden Fall heran. Das hat sie auch die Erfahrung gelehrt. So tauchte kurz vor den vergangenen Weihnachten ein 24-jähriger Autist gesund und munter nach mehr als drei Jahr Abgängigkeit wieder auf- Der junge Mann war im November 2015 aus seiner Betreuungseinrichtung in Wien verschwunden. Ersuchen im Rahmen internationaler Polizeikooperationen, Öffentlichkeitsfahndungen, operative Fallanalysen, Cold-Case-Management, ein Beitrag in der TV-Sendung "Aktenzeichen XY ungelöst" – alles hatte nichts gebracht. Im Dezember 2018 stellte sich dann heraus, dass der 24-Jährige unter falschem Namen in einer Mailänder Betreuungseinrichtung untergebracht war. Die italienische Polizei identifizierte den Vermissten, weil er seinen Betreuern den Namen seines Vaters gesagt hatte.

Rasch anzeigen

Jeder Vermisstenfall beginnt mit der Anzeige, wobei Mayer mit der Mär aufräumte, dass eine solche erst nach Ablauf einer bestimmten Frist erstatten werden kann: "24 Stunden sind ein Gerücht." Bei Kindern erfolgt die Anzeige im Allgemeinen sehr schnell. Bei Erwachsenen kann es durchaus einen Tag dauern, bis sie vermisst werden, oder länger. Die Anzeige wird von einem Polizisten aufgenommen, der gleich erste Abfragen durchführt. Danach übernehmen sehr schnell Kriminalbeamte in Landeskriminalämtern und Polizeikommanden. Nach einem Fragenkatalog vernehmen sie Angehörige und überprüfen das unmittelbare Lebensumfeld des Verschwundenen. Dabei gehen sie methodisch nach Checklisten vor. Ein Beispiel wäre die Überprüfung des Dachbodens des Wohnhauses, in dem ein Abgängiger lebte.

"Besonders Minderjährige, die aus Betreuungseinrichtungen verschwunden sind, tauchen oft schnell wieder auf", sagte Mayer. Das könnte auch für den Fall einer mittlerweile 14-Jährigen gelten, die am 8. Jänner bei einem Kinderheim im niederösterreichischen Horn verschwunden ist. Zumindest gibt es Lebenszeichen, wie Mayer bestätigte.

Als U-Bott in Hamburg

Wer als abgängig gemeldet wird, nach dem wird auch gleich europaweit gefahndet. Die Anzeige fließt auch in die polizeilichen Informationssysteme EKIS (national) und SIS (Schengen-Informationssystem). Der Anfang ist bei allen Abgängigkeitsmeldungen gleich oder zumindest ähnlich. "Wenn es länger dauert, dann entwickelt sich jeder Fall anders", sagte Mayer, der schon seltsamste Geschichten in diesem Zusammenhang erlebt hat. Ein Beispiel: Ein Österreicher war für rund 30, 35 Jahre für seine Verwandten und Freunde untergetaucht und lebte in Hamburg, quasi als U-Boot, allerdings ohne etwas Illegales getan zu haben. Bei einer Verkehrskontrolle saß er auf dem Beifahrersitz und flog so auf.

Bei länger dauernden Suchen spielt die Öffentlichkeitsfahndung eine große Rolle: über TV, Print und Agenturen. Besonders wichtig ist in dem Zusammenhang auch die Kooperation mit "Infoscreen", wie BK-Sprecher Vincenz Kriegs-Au erläuterte. Man erreicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln besonders viele Menschen. "Und gerade minderjährigen Abgängigen ist es peinlich, wenn sie sich auf dem Infoscreen sehen."

Tausend vermisste Personen

Mit Jahresbeginn – Stichtag 2. Jänner – waren in Österreich laut BK 1.037 Personen als vermisst gemeldet. Diese hoch anmutende Zahl entsteht laut Mayer, weil sich die ungelösten Fälle kumulieren. Wenn pro Jahr etwa zehn Personen dauerhaft abgängig bleiben und das BK diese Aufzeichnungen seit 1960 führt, wird die Zahl leichter verständlich.

Ein wichtiges Projekt für das KAP ist aber die Reduktion der Anzeigen bei sogenannten Mehrfachabgängigkeiten: Mehr als drei Viertel von Vermissten-Meldungen betreffen Minderjährige. Allein 7.000 Anzeigen wurden laut BK im Vorjahr erstattet, weil Kinder und Jugendliche aus Betreuungseinrichtungen verschwunden waren. Davon waren 6.000 bereits dreimal oder öfter abgängig. Diese Zahl will das KAP im "Projekt Heimvorteil" verringern: Ab März werden 120 Polizisten entsprechend geschult, um in den Betreuungseinrichtungen mit Kindern und Jugendlichen entsprechend arbeiten zu können. (APA, 23.1.2019)