Dennis Ehrhardt: "Sinclair. Dead Zone"
Klappenbroschur, 462 Seiten, € 12,40, Fischer Tor 2019
John Sinclair??!? Hui, da steigen Erinnerungen an die Heftromanstände hoch, die in meiner Kindheit noch in Supermärkten herumstanden. Helmut Rellergerds alias Jason Darks Serie "Geisterjäger John Sinclair" mit dem unverwechselbaren Logo war damals ebenso omnipräsent wie "Jerry Cotton", "Perry Rhodan" & Co. Und wie PR (siehe Rundschau-Anfang) ist nun auch der auf übernatürliche Fälle spezialisierte Scotland-Yard-Mann John Sinclair zu Buchehren gekommen, die Popkultur-Aufbereitungsmaschinerie läuft auf Hochtouren. Jetzt warte ich nur noch auf eine in Leder gebundene "Mythor"-Trilogie ...
Ein Reboot soll es sein, um die immerhin bis in die frühen 70er Jahre zurückreichende Serie zu modernisieren und auch für jüngere Generationen zugänglich zu machen. Dass der neue Sinclair Altfans nicht völlig vor den Kopf stößt, dafür sorgt der Autor Dennis Ehrhardt, der zuvor schon für die aus der Serie entsprungene Hörspiel-Reihe gearbeitet hat. Kurz gesagt: Serienveteranen wird ein Wiedersehen mit alten Bekannten unter veränderten Umständen erwarten, Neueinsteiger wiederum brauchen keinerlei Vorwissen. Sie können "Sinclair. Dead Zone" – Beginn einer neuen Buchreihe – lesen wie jeden anderen Urban-Fantasy-Roman mit Horroreinschlag.
Der (Wieder-)Einstieg
Apropos Hörspiele: Da "Sinclair" nach der Buchform auch als Sextett von Hörspielen erscheinen wird, gliedert sich der Text in sechs penibel gleich lange Abschnitte. Und gleich der erste beschert uns nicht nur ein Wiedersehen mit Sinclair selbst, sondern auch mit anderen alten Serienfiguren, allen voran Sadako Shao und Gan Zuko, die ebenfalls für die Londoner Polizei arbeiten. Sie ragen allerdings höchstens eine Nasenspitze weit aus einem dichten Knäuel von Handlungssträngen und Protagonisten heraus.
Kurz die zentralen Elemente genannt: Vor den Azoren hebt eine Expedition einen großen schwarzen Steinwürfel aus dem Meer. Als eine Archäologin die unbekannten Schriftzeichen auf dessen Oberfläche berührt, hat sie eine Vision von einem mörderischen Spinnenmonster, das zur gleichen Zeit in London sein Unwesen treibt. Unsere Helden von der Polizei ermitteln anfangs noch im Drogenmilieu, aber bald werden sie sich auch mit dem vielbeinigen Scheusal beschäftigen müssen. Und irgendein Geheimbund, der die Expedition offenbar finanziert hat, ist auch noch im Spiel.
Und wie geht es weiter?
Am Ende des ersten Abschnitts ... ist der Titelheld tot, mit einem gesprengten Frachtkahn in die Luft geflogen. Überraschung! Nicht dass wir auch nur für eine Sekunde annehmen würden, dass John Sinclair für immer tot bleiben wird – das wäre für ein Reboot doch ein etwas radikaler Ansatz. Aber Leser sollten sich darauf einstellen, dass Sinclair zumindest für den Rest dieses Buchs keine Rolle mehr spielen wird, auch nicht – in Gedanken, Worten und Werken seiner Mitstreiter – indirekt.
Eine zweite wichtige Erkenntnis: Das Reboot beginnt tatsächlich bei null. Da wird Sinclair mit einem parasitären Wesen konfrontiert, das von einem Wirt zum nächsten springt – ein Motiv, mit dem jeder Horrorkonsument bestens vertraut ist und das dem versierten Geisterjäger aus der Heftromanserie erst recht bekannt wäre. Der Buch-Sinclair hingegen rätselt, warum Menschen, zwischen denen es keine Verbindung zu geben scheint, plötzlich Bluttaten begehen; auf übernatürliche Umtriebe kommt er gar nicht erst. Der "Geisterjäger" steht hier also noch ganz am Anfang seiner Karriere (und halt am Ende seines Lebens, aber das wollen wir wie gesagt nicht so wörtlich nehmen ...).
Personenstau
Und all das hat sich lediglich im ersten Sechstel des Buchs abgespielt, eine ganz schöne Ladung. Auch danach wird sich das Dickicht übrigens nicht so schnell lichten. Wir sind schon längst im dreistelligen Seitenbereich, und Ehrhardt führt immer noch neue Perspektivfiguren ein. Was vor allem daran liegt, dass er gerne "um die Ecke" erzählt: Eine konkrete Situation wird aus der Sicht von jemandem geschildert, der nur indirekt beteiligt ist (Beispiel: die Freundin eines Gangsters, der von der Riesenspinne zerstückelt wird) – gewissermaßen also einer Nebennebenfigur.
Das ist eine legitime Erzählstrategie. Da sie aber ein Mindestmaß an persönlichen Informationen über die jeweilige Perspektivfigur erfordert, sehen wir uns als Leser mit einem wahren Wildwuchs an Namen und Lebensläufen konfrontiert. Sofern nicht schon jetzt auf eine etwaige TV-Adaption geschielt wird, ließe sich das gerne etwas ausdünnen – immerhin ist "Sinclair" kein gesamtgesellschaftliches Sittenbild, sondern eine Gruselgeschichte.
Das Voranschreiten der Handlung wiederum ist spannend, aber nicht allzu schnell. "Sinclair" folgt über weite Strecken der Police-Procedural-Struktur, mit allem, was dazugehört: aufwändige Recherchen, Zeugenbefragungen, Zeugenbeseitigungen und der Verdacht, dass die eigenen Vorgesetzten die Ermittlungen blockieren. Der Horror ist lange Zeit nur Nebensache, und ein bisschen von dem Tempo, das der rasante Abschnitt 6 entfaltet, hätte auch 2 bis 5 gutgetan.
Plus und minus
Ausdrücklich positiv zu erwähnen ist, dass im Fall von Bill Conolly, einer weiteren alten Serienfigur, die Modernisierung besonders stimmig ausfällt. In den Heftromanen ein Reporter alter Schule, sieht sich Bill im Buch mit der Krise des Journalismus konfrontiert und beschließt, seine Geschichten auf einem eigenen Youtube-Kanal zu vermarkten. Wofür er allerdings erst mal die Hilfe zweier jugendlicher "Influencer" braucht, deren Follower-Zahl in keinem Verhältnis zu der ihrer Gehirnzellen steht. Da prallen zum Schreien komisch zwei Welten aufeinander, wenn Bill den beiden gehaltvollere Themen unterjubeln will: "Weiß nicht, ob das nicht unseren Markenkern verfälscht, Bruder." Und ehe wir's uns versehen, verfällt der gute alte Bill in peinlichen Jugendsprech und wettert gegen die "Mainstream-Medien".
Ausdrücklich negativ ist anzumerken, dass der – immerhin nicht allzu kurze – Roman zu keinem Abschluss findet. Es gibt nicht nur jede Menge offene Enden (unter anderem kommen neben dem Spinnenmonster noch andere Wesen zu Überraschungsauftritten, zudem erlebt Shao eine mysteriöse Verschiebung der Realität), auch formal ist hier kein Schlusspunkt gesetzt. Die Erzählung hört einfach mittendrin auf. Das ist eine ziemlich riskante Strategie des Autors: Sie könnte Leser dazu treiben, jetzt unbedingt auch das nächste "Sinclair"-Buch lesen zu müssen. Sie könnte sie aber auch zum Gedanken führen: Also, wenn jetzt womöglich jeder künftige Band ohne Abschluss bleibt, dann steige ich lieber gar nicht erst ein. Die Verkaufszahlen werden zeigen, welche Reaktion überwiegt.