Der Vorhang geht hoch. Ein weiß geschminkter Mann mit Gitarre und Blumenhut singt davon, sein Meisterwerk zu malen. Als Bob Dylan im Herbst und Winter 1975 durch Neuengland zieht, ist auf den ersten Blick nicht gleich zu erkennen, wer sich hinter der Maske verbirgt. Mit einem bunten Wanderzirkus an Weggefährten und auf der Straße entdeckten Talenten spielt er in kleinen Hallen – oft nur kurzfristig über lokale Radiostationen angekündigt – bis zu vierstündige Shows.

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Tingelten 1975 durch den Osten der USA: Joan Baez (li.) und Bob Dylan.
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In der an Mythen nicht armen Karriere Dylans markiert die Rolling Thunder Revue genannte Tour einen Höhepunkt, der nur vom Hipnessfaktor Mitte 1960er-Jahre übertroffen wird. Ein ehrgeiziges vierstündiges Filmprojekt darüber, das Dylan selbst 1978 unter dem Titel Renaldo & Clara herausbrachte, sollte nach einem desaströsen Start schnell wieder aus den Kinos verschwinden und harrt bis heute einer offiziellen Veröffentlichung.

Nun soll Meisterregisseur Martin Scorsese in die schillernde Welt der Rolling Thunder Revue eintauchen und Dylans Filmmaterial mit Interviews verweben. Wie der Streamingdienst Netflix dem Branchenblatt Variety bestätigte, ist mit Rolling Thunder Revue: A Bob Dylan Story by Martin Scorsese noch heuer zu rechnen.

No Direction Home

Dass sich Scorsese darauf versteht, aus Archivmaterial eine ästhetisch reizvolle Erzählung zu schmieden, die über eine bloß an Fans gerichtete Hagiografie hinausreicht, hat der Regisseur bereits bewiesen: No Direction Home hieß seine vielgelobte, 2005 fürs Fernsehen produzierte Doku, die auf die ikonischen frühen Jahre Dylans von dessen Ankunft in der New Yorker Folkszene bis zum elektrifizierten Hipster des Jahres 1966 fokussierte.

Scorseses eigene Affinität zur Popkultur der Sixties und ihrer Musik reicht weit zurück. Als Assistent und Cutter war er schon beim Woodstock-Film über das gleichnamige Musikfestival von 1969 an Bord. Sieben Jahre später ließ er beim Abschiedskonzert von The Band die Kameras laufen: The Last Waltz gilt ob seiner ausgeklügelten Opulenz bis heute als Goldstandard in Sachen Konzertfilm. Als Stargast damals mit auf der Bühne: Bob Dylan.

Konzertfilm und Fiebertraum

"Teils Dokumentation, teils Konzertfilm, teils Fiebertraum" soll Scorseses nun angekündigter zweiter Dylan-Film sein. Der Regisseur von Filmen wie Taxi Driver oder Raging Bull kann dabei aus dem Vollen schöpfen: Rund 110 Stunden Filmmaterial ließ Dylan laut Beat-Poet und Rolling-Thunder-Revue-Veteran Allen Ginsberg einst von Profis wie dem renommierten Cinéma-vérité-Kameramann David Myers drehen. Dylans musikantisch-raue Performances von Sixties-Klassikern in neuem Gewand und damals aktuellen Songs der gefeierten Mittsiebzigeralben Blood on the Tracks und Desire zählen zu den charismatischsten seiner Karriere.

Bob Dylan 1975 solo mit "Tangled Up in Blue" – eine der wenigen offiziellen Veröffentlichungen aus den Tagen der "Rolling Thunder Revue".
BobDylanVEVO

Dem maskierten Star zur Seite standen etwa David Bowies Gitarrist Mick Ronson, die "Queen of Folk" Joan Baez, Autor und Schauspieler Sam Shepard und der spätere Musikproduzent T Bone Burnett (True Dective). Viele von ihnen wurden in den vergangenen Jahren eigens für das Dokuprojekt interviewt. Scorseses Film treffe den "unruhigen Geist von Amerika im Jahr 1975", wird in Variety eine Verzahnung des Privaten mit dem Gesellschaftlichen in Aussicht gestellt.

Mit dem Gangsterdrama The Irishman soll Netflix übrigens heuer ein weiteres, bereits vor Jahren begonnenes Herzensprojekt Scorseses herausbringen. In den Hauptrollen: Robert De Niro und Al Pacino. Abzuwarten bleibt, mit welcher Produktion Scorsese Dylan am nächsten kommt, wenn er am Anfang seiner Rolling-Thunder-Revue-Konzerte singt: "When I paint my masterpiece." (Karl Gedlicka, 22.1.2019)