Im Büro in der Wiener Löwelstraße, wo einst ihr Vorgänger Matthias Strolz residierte, hat sich inzwischen Beate Meinl-Reisinger eingerichtet. Bevor das Interview starten kann, erklärt die Neo-Klubchefin der Neos die Provenienz der Bilder an der Wand: "Das sind alles meine!", hält sie in Anspielung auf SPÖ-Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda fest, der wegen einer Leihgabe aus dem Belvedere in Erklärungsnot geriet.

Der Schaukampf zwischen dem rot-grünen Wien und Türkis-Blau bringt uns nicht weiter": Beate Meinl-Reisinger zum Streit rund um die Mindestsicherung.
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STANDARD: Innerhalb einer Woche gab es vier Frauenmorde in Österreich. Wie sehen Sie da die Politik gefordert?

Meinl-Reisinger: Das ist erschütternd und beschäftigt mich sehr. Fakt ist, dass wir in letzter Zeit unter den Tätern überrepräsentativ viele Ausländer haben. Darüber müssen wir reden, ohne es zu instrumentalisieren, wie es Teile der türkis-blauen Regierung machen. Wir brauchen schleunigst eine Zusammenarbeit zwischen allen Sicherheitsbehörden und sozialen Institutionen. Wir haben ein Thema mit jungen Männern, die ihren Frust, ihre Kränkung oder ihre Ehre nicht in den Griff bekommen.

STANDARD: Das heißt, Sie sehen die tödlichen Übergriffe als rein kulturelles Problem?

Meinl-Reisinger: Nein, kein rein kulturelles, aber auch. Ich schau auf die Zahlen und stelle fest, dass es so ist. Gewalt gegen Frauen ist nicht neu, die Häufung ist fürchterlich. Wir müssen die Frauen ermutigen, dass sie sich zur Wehr setzen und auch vor Gericht aussagen. Zusätzlich braucht es Maßnahmen bei der Prävention.

STANDARD: Die Regierung will Betretungsverbote vereinfachen, strengere Strafen für Wiederholungstäter verhängen, hat aber vorher die Mittel für wichtige Opferschutzmaßnahmen gestrichen. Ein Fehler?

Meinl-Reisinger: Das war sicher falsch. Wir müssen uns anschauen, wo genau neben dem Schutz von Frauen noch angesetzt werden muss. So frage ich mich: Was machen die 15-, 16-, 17-Jährigen den ganzen Tag? Jetzt braucht es rasch einen nationalen Aktionsplan und nicht bloß Aktionismus wie eine neue Notrufnummer.

STANDARD: Im Kampf gegen Hass im Netz sprechen Sie sich für den Tatbestand "psychische Gewalt" aus – was stellen Sie sich konkret vor?

Meinl-Reisinger: Eine Verschärfung im Verwaltungsrecht wäre möglich, denn das Strafrecht ist die schärfste Waffe, die wir haben, und damit müssen wir sorgsam umgehen. Jedem muss klar sein: Auch das Internet ist kein rechtsfreier Raum, in dem man sich aufführen kann, wie man will, und bedrohen kann, wen man will.

"Donald Trump ist wohl ungewollt der beste Fürsprecher dafür, dass Europa außenpolitisch näher zusammenrücken sollte."

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STANDARD: Sind Sie von Hassbotschaften betroffen?

Meinl-Reisinger: Welche Politikerin ist das nicht? Ich habe auch schon Anzeigen erstattet. Was mich überrascht hat, ist, dass das alles unter Klarnamen passiert. Daher halte ich nicht viel von einer Klarnamenpflicht. Teilweise gehe ich mit den Absendern in eine Diskussion, denn Widerspruch ist immer gut – egal ob die Anfeindungen antisemitisch, rassistisch oder frauenfeindlich sind, da greif ich oft selbst in die Tasten.

STANDARD: Das Land debattiert auch über Aufstehzeiten im Allgemeinen, und zwar von Mindestsicherungsbeziehern in Wien im Besonderen, seit die Koalition dies als Problematik gebrandmarkt hat. Finden Sie das rot-grüne Wien bei der Sozialhilfe auch zu großzügig?

Meinl-Reisinger: Man hätte weniger polemisch auf bestehende Probleme hinweisen können, aber die Wiener Stadtregierung steckt bei der Mindestsicherung den Kopf in den Sand. In dieser Form hat die Unterstützung keine Trampolinfunktion zurück ins Erwerbsleben. Da bietet das derzeitige System zu wenige Anreize, aber auch das zukünftige. Der Ansatz muss sein, aus Menschen Lohnempfänger zu machen, nicht Sozialhilfeempfänger.

STANDARD: Wie würden die Neos bei der Mindestsicherung konkret vorgehen?

Meinl-Reisinger: Es braucht höhere Zuverdienstmöglichkeiten und auch Sachleistungen statt Geldleistungen, vor allem in Familien mit Kindern, damit das Geld auch bei ihnen ankommt – etwa durch Bildungsschecks.

STANDARD: Grundsätzlich richtet sich Ihre Kritik bei der Thematik also mehr gegen Wien als gegen die Regierung?

Meinl-Reisinger: Die Regierung hat hier natürlich viel zu wenig vorgelegt – und mir missfällt, wie sie Menschen gegeneinander ausspielt. Es ist etwa eine fatale Entscheidung, dass aus der Haft Entlassene keine Mindestsicherung bekommen sollen. Das ist das Deppertste, was man machen kann, außer man will Kriminalität fördern. Die Kürzung für Mehrkindfamilien wiederum ist polemisch, das hat keine ökonomische Grundlage, da geht es nur um den Ausländerkontext. Trotzdem bringt uns der Schaukampf zwischen dem rot-grünen Wien und Türkis-Blau nicht weiter. Wir brauchen die besten Lösungen, keine aufgeschaukelte Politik.

"Egal ob die Anfeindungen antisemitisch, rassistisch oder frauenfeindlich sind, da greif ich oft selbst in die Tasten."
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STANDARD: Im Mai steht die EU-Wahl an – was tun, damit dieser Wahlkampf nicht ausschließlich um die Migrationsprobleme kreist?

Meinl-Reisinger: Das ist eine Frage, die sich auch einmal die Medien stellen sollten.

STANDARD: Tun wir.

Meinl-Reisinger: Die Migrationsdebatte einfach abzutun geht natürlich nicht. Ich würde mir einen durch und durch europäischen Wahlkampf wünschen. Es geht am Wahltag um eine Richtungsentscheidung – und zwar ob jene Kräfte gestärkt werden, die Lösungen rund um Migration, Klimawandel, Wettbewerbsfähigkeit, Digitalisierung, Sicherheit und Verteidigung finden wollen, oder ob nationale und populistische Kräfte weiter zulegen, die sagen: "Machen wir ein bisschen Binnenmarkt und ansonsten wieder auf Nationalstaat!" Angesichts der ungelösten Probleme plädieren wir für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Auf Dauer werden sich da einige Staaten zusammentun müssen, die sagen: "Machen wir einmal!"

STANDARD: Sollte Österreich auch in Sachen EU-Armee bei einer solchen Gruppe mit höherem Tempo mitmachen?

Meinl-Reisinger: Ja, wir können hier eine gute Rolle einnehmen. Donald Trump ist wohl ungewollt der beste Fürsprecher dafür, dass Europa außenpolitisch näher zusammenrücken sollte – genauso wie in Wettbewerbs- oder Handelsfragen. Und mit dem Beitritt Österreichs zur Union wurde die Neutralität abgeändert – letztendlich zugunsten einer Beistandspflicht. Deswegen nehmen wir an der permanenten EU-Militärkooperation von 23 Staaten teil.

STANDARD: Summa summarum wird der Verteidigungsetat dann aber wohl stetig steigen müssen?

Meinl-Reisinger: Der Bundespräsident hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Bundesheer infrastrukturell und personell schlecht aufgestellt ist. Dahinter steht eine Konzeptlosigkeit – und aus unserer Sicht gehört die Landesverteidigung schon zu den Kernaufgaben des Staates.

STANDARD: Als Teil der Alde, der europäischen Liberalen, bilden Sie mit Emmanuel Macrons En Marche eine Allianz für die EU-Wahl. Seit Wochen ist Frankreichs Präsident wegen des Aufstands der Gelbwesten unter Druck. Ein Handicap für den Wahlkampf?

Meinl-Reisinger: Nein, Macron vertritt eine proeuropäische Politik, innen- wie außenpolitisch.

STANDARD: Trotzdem demonstrieren tausende Menschen samt Ausschreitungen gegen ihn. Kann das nicht hiesige Neos-Wähler verschrecken?

Meinl-Reisinger: Macron hält den Rechtsstaat und die europäische Fahne hoch – und das zählt. In Europa ist nicht alles eitel Wonne, es läuft viel schief. Daher braucht es eine neue progressive Kraft.

STANDARD: Zurück nach Österreich: Täuscht der Eindruck, dass Sie sanfter in Ihrer Kritik an ORF, GIS-Gebühren und Co geworden sind?

Meinl-Reisinger: Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die technologieabhängige Gebührenfinanzierung unzeitgemäß ist, wenn man für einen Fernseher zahlen muss, für einen Laptop aber nicht, jedoch auf beiden ORF empfangen kann. Aber in der Debatte um die Budgetfinanzierung steig ich auf die Bremse. Da müssen wir uns etwas anderes überlegen, wie eine Haushaltsabgabe oder eine Fondsfinanzierung. Klar ist: Uns ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk wichtig, wir wollen aber die Parteipolitik rauskriegen, während die Regierung versucht, die andere Parteipolitik rauszudrängen, um die eigene zu verankern.

STANDARD:: Vizekanzler Heinz-Christian Strache nimmt als Vater einen Monat Auszeit, Ähnliches haben Sie nach der Geburt Ihres Kindes vor. Er hat öffentlichkeitswirksam erklärt, sein Jännergehalt zu spenden – gefällt Ihnen das?

Meinl-Reisinger: Ich glaube, er macht das aus Angst vor Vorwürfen, dass er zu Hause bleibt – das ist ein blödes Signal. Was ist dann die Botschaft an Väter? "Bleibts einen Monat zu Hause, aber eigentlich ist eure Arbeit daheim nichts wert?" Das ist ja kein Urlaub. Da setz ich mich lieber mit den ökonomischen Anreizen auseinander, damit mehr Väter Verantwortung übernehmen und zu Hause bleiben können. (Marie-Theres Egyed, Nina Weißensteiner, 20.1.2019)