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Als Universitätsprofessor in Wien vertiefte sich der Romanist Georg Kremnitz in Forschungsberichte über Sprachinseln und verfasste Standardwerke über die Mehrsprachigkeit in der Literatur. Der gebürtige Schwabe ist vor allem auch ein exzeptioneller Kenner katalanischer Anliegen. Sein Credo im Umgang mit Europas Nationalstaaten: Eine Demokratisierung der EU ist unerlässlich.

STANDARD: Die Kritik am Nationalstaat, wie Robert Menasse sie äußert, ruft seine Verteidiger auf den Plan. Den einen gilt die Nation als verlässlicher Bürge für die Demokratie, anderen erscheint sie als Hemmschuh. Können wir sie mit Blick auf die EU entbehren?

Kremnitz: Ich würde einen Schritt zurückgehen und die Verwendung des Begriffes Nation, wie er bei uns gebräuchlich ist, infrage stellen. Wenn es im Fernsehen heißt: "An der Sportveranstaltung XY haben 50 Nationen teilgenommen ...", dann handelt es sich um eine Begriffsverwirrung. Denn es waren wohl Staaten vertreten, aber keine Nationen.

STANDARD: Man darf die beiden Begriffe nicht synonym gebrauchen?

Kremnitz: Es gibt viele Nationen ohne Staat, doch es gibt kaum einen Staat, der in sich geschlossen ist. Wir brauchen bloß einen Seitenblick auf Österreich und seine Slowenen zu werfen. Es waren Letztere, die Österreich 1945 aus dem Sumpf gezogen haben. Ohne Slowenen wäre die Behauptung von Österreich als erstem "Opfer" des Nationalsozialismus nicht aufrechtzuerhalten gewesen. Es existiert also eine Spannung: zwischen Gruppen, die sich selbst als Nation verstehen, primär aber keine politischen Ansprüche erheben und sogar bereit sind, sich einzuordnen.

Ein Europa der Regionen harrt erst seiner Verwirklichung: In der spanischen Provinz Katalonien, sagt Georg Kremnitz, würden "Rechte mit Füßen getreten".
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STANDARD: In einem Staat, der nicht der ihre ist?

Kremnitz: Nicht als Nation, aber in einem Staat. Wir könnten bei der Türkei und den Kurden beginnen und in Frankreich aufhören. Man zwingt die Gruppen implizit dazu, für sich Staatlichkeit zu fordern. Da aber jeder Staat in sich nicht homogen ist, schafft das nur neue Minderheitenprobleme.

STANDARD: Aus der postjugoslawischen Entwicklung resultierte eine Reihe von Kleinstaaten, die alle möglichst rasch EU-Mitglieder werden wollen.

Kremnitz: Das Wort "Nation" verkörpert ein politisches Bewusstsein, dem häufig nicht die Chance eingeräumt wird, sich zu verwirklichen. Solange Staaten nicht in der Lage sind, mit den anderen Gruppen innerhalb ihrer Grenzen einigermaßen ehrlich umzugehen, gibt es Spannungen. Die bleiben lange latent, werden aber bei passender Gelegenheit offenkundig.

STANDARD: Weist ein "Europa der Regionen" einen Ausweg aus den Konflikten?

Kremnitz: Der Franzose Pierre Lafont hat 1968 zwischen primären und sekundären Nationen unterschieden. Als primär gab er solche an, die sich ethnisch gebildet haben. Sekundär nannte er Länder, die sich politisch als Staaten konstituieren. Diese Unterscheidung hat viel für sich.

STANDARD: Als sekundäre stellt man Staaten erst durch Homogenisierung her?

Kremnitz: Lafont war nicht für die Homogenisierung, sondern er vertrat die Auffassung, man müsse die verschiedenen Gruppen miteinander koexistieren lassen. Das ist da und dort geschehen, in Jugoslawien, in der Sowjetunion. Wir sehen ja auch heute, mit Blick auf das Vereinigte Königreich: Es ist noch nicht klar, ob wir am Ende drei oder vier Staaten haben werden. Der Nationalstaat, wie ihn die Französische Revolution ideologisiert hat, scheint ganz einfach nicht mehr praktikabel.

STANDARD: Das heißt mit Blick auf die Union?

Kremnitz: Ein vielversprechendes Konstrukt läuft Gefahr, wieder auseinanderzubrechen. Ich gehöre einer Generation an, die das von klein auf miterlebt hat. Als de Gaulle 1962 seine große Rede in Ludwigsburg hielt, war ich unter den Zuschauern. Das war lustig. De Gaulle konnte sehr gut Deutsch. Aber wenn ihm ein Wort fehlte, konnte man die Leute hören, die ihm das Gewünschte zuflüsterten.

STANDARD: Die Verständigungssehnsucht der Jahre nach 1945 ist wie weggeblasen?

Kremnitz: Sie bildet keine Erfahrung mehr. Ich denke, dass die "Passage" Nationalstaat für die Demokratisierung der Gesellschaft unerlässlich war. Sie verhalf zur Ablösung des alten Klassen- und Kastensystems. Der Staat hat vielleicht nicht die Grenzen zwischen den sozialen Schichten aufgehoben, aber er hat geholfen, sie abzuschwächen. Er hat erst an den geografischen Grenzen die eigenen Grenzen gefunden. Diese Art von Nationalismus hat in Europa nach 1945 seine Existenzberechtigung verspielt.

STANDARD: Gab es einen Kipppunkt?

Kremnitz: Es war gefährlich, vorschnell Staaten in die EU aufzunehmen, die sich, vereinfacht gesagt, ihre Hörner noch nicht abgestoßen hatten. In anderer Hinsicht bedeutete die Europäische Union einen Rückfall in vordemokratische Zeiten. Sie besitzt weniger demokratische Kontrolle als irgendeines ihrer Mitglieder. Es wird wohl nötig sein, auf europäischer Ebene die Französische Revolution nachzuholen.

STANDARD: Ohne die Guillotine wieder in Betrieb zu nehmen?

Kremnitz: Selbstverständlich. Wenn in Richtung einer Demokratisierung kein gewaltiger Schub erfolgt, dann ist das Projekt als Ganzes gefährdet. Um nun ein letztes Mal auf die Regionen zurückzukommen: Benedict Anderson hat das Wort von Nationen als "imagined communities" geprägt. Doch auch Nationen, die keine Staaten darstellen oder andere hinter sich haben, sind an den Grenzen fließend. Es ist einfach nicht wahr, dass alle Teilhaber einer Sprache dasselbe kollektive Bewusstsein hätten.

STANDARD: Das wäre dieselbe Einsicht, die auch Robert Menasse vertritt?

Kremnitz: Das Monopol der Staaten wird sowohl durch eine europäische Ebene als auch durch eine regionale ergänzt werden müssen, wenigstens durch sinnvolle Verteilung von Entscheidungssphären. Das sagt Menasse, und das ist kein dummer Gedanke. Leider Gottes ist eine solche Entwicklung durch die Aufnahme neuer Nationalstaaten, die von Regionalismus um keinen Preis etwas wissen wollten, hinfällig geworden. (Ronald Pohl, 20.1.2019)