Ganz egal, was das britische Unterhaus in den kommenden Tagen noch beschließt – als Folge der klaren Ablehnung des EU-Verhandlungspakets von Premierministerin Theresa May rückt der Chaosbrexit ohne Austrittsvereinbarung ("No Deal") näher. Das Risiko sei nun wohl "so hoch wie noch nie", sagt der Ökonom Azad Zangana vom Vermögensverwalter Schroders. Immer mehr Briten reagieren darauf ganz praktisch: In Facebook-Gruppen und Community-Netzwerken tauschen sie Ratschläge aus, welche Lebensmittel und Medikamente sie für die Zeit nach dem Austritt Ende März horten müssen.

Ein Schreckensszenario vieler Briten: geschlossene Geschäfte, weil der Nachschub fehlt.
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Auf der populären Website "Mumsnet" gibt es Anweisungen zur Frage, ob und wie man am besten Weintrauben und Avocados einfrieren kann. Tatsächlich bezieht die Insel im Frühjahr bis zu 75 Prozent ihres frischen Obst- und Gemüsebedarfs vom Kontinent. Eine einschlägige Facebook-Gruppe erhielt im vergangenen Monat Zulauf von 1.000 neuen Mitgliedern.

Drei Briten, die in Österreich leben, zum Brexit – deutsche Untertitel können über das Zahnrad-Symbol ausgewählt werden.
DER STANDARD

Versorgungsketten

Dem "Guardian" erläuterte die Cambridger Politikprofessorin Diane Coyle, warum sie derzeit ein wenig mehr kauft als für den Tagesbedarf nötig. Das liege an den Versorgungsketten der Supermärkte, die auf "just in time" angelegt seien: "Wenn wir auch nur eine Verzögerung von zwölf Stunden haben, werden bestimmte Produkte ausgehen." Tatsächlich warnen Transportexperten angesichts der begrenzten Kapazität und möglicher Zeitverluste durch Zollkontrollen vor Lkw-Schlangen von mehreren dutzend Kilometern vor den Häfen am Ärmelkanal.

"Just in time"-Versorgungsketten sind problematisch.
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Die Regierung hat den Bedenken der Bevölkerung durch unklare Anweisungen und halbherzige Vorbereitungen Vorschub geleistet. Er sei "der weltweit wichtigste Käufer von Kühlschränken", brüstete sich Gesundheitsminister Matthew Hancock vor Weihnachten, und sein Ressort erläuterte: Um Medikamente zu lagern, müsse deren Kühlung sichergestellt sein. Allerdings wiesen Krebsexperten darauf hin, dass bei vielen Bestrahlungstherapien Isotope mit einer Halbwertszeit von drei Tagen verwendet werden. Der Labour-Vorsitzende des Brexit-Ausschusses im Unterhaus, Hilary Benn, nutzte Hancocks Kühlstrategie zu einer Spitze gegen jene Brexit-Ultras, die den No Deal enthusiastisch befürworten: "Wenn das wirklich so problemlos ist, kann mir mal jemand erklären, warum die Regierung Kühlschränke aufkauft?"

Am Rande der Anarchie

Die Wirtschaft warnt schon seit Monaten in teils apokalyptischen Formulierungen vor dem Chaosbrexit. Der britische Chef des US-Giganten Amazon, der auf der Insel 25.000 Mitarbeiter beschäftigt, sprach bereits im Sommer von Problemen mit der Lebensmittel- und Medikamentenversorgung. Diese könnten Krawalle zur Folge haben, wie sie im Sommer 2011 mehrere englische Städte tagelang an den Rand der Anarchie gebracht hatten, prophezeite Douglas Gurr. Tatsächlich gehören entsprechende Vorkehrungen der Polizei zum Regierungsprogramm für den No Deal, das insgesamt 4,2 Milliarden Pfund (4,75 Milliarden Euro) kosten soll. Auch rund 1.000 Soldaten sollen die Sicherheitskräfte notfalls unterstützen.

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Die irische Fluglinie Ryanair hat sich auch eine britische Lizenz zugelegt.
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Airlines wurden erst kürzlich wieder von der EU-Kommission gewarnt, sie müssten Vorkehrungen treffen, um von Ende März an wie gewohnt im europäischen Luftraum unterwegs zu sein. Viele fliegen mit lediglich britischer Betriebsgenehmigung. Der Billigflieger Easyjet hat deshalb ein Tochterunternehmen in Wien gegründet, der irische Konkurrent Ryanair zusätzlich eine britische Lizenz beantragt.

Beide Unternehmen wollen zudem ihren Aktionären außerhalb der EU das Stimmrecht entziehen. Der Vorgabe der EU-Kommission zufolge muss ein Luftfahrtunternehmen nämlich zu mindestens 50 Prozent EU-Aktionären gehören. Unter Druck steht deshalb auch IAG, das Holdingunternehmen von British Airways. (Sebastian Borger aus London, 17.1.2019)