Neal Stephenson & Nicole Galland: "Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O."
Gebundene Ausgabe, 864 Seiten, € 30,90, Goldmann 2018 (Original: "The Rise and Fall of D.O.D.O.", 2017)
Rundschau-Altspatzen werden vor Überraschung auftrillern, dass hier ein Buch mit einer solchen Seitenzahl besprochen wird. Ja, was soll ich sagen. Da kam der eine Zufallsfaktor ins Spiel, der immer alle sachlichen Erwägungen ausstechen kann: Ich hatte grade Lust drauf. Und hab es – so viel gleich als Fazit – auch nicht bereut. So liest es sich also, wenn Neal Stephenson mal der Schalk im Nacken sitzt. "Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O." ist ein höchst vergnügliches Epos der Inkompetenz – und damit sind nicht Stephenson und seine Koautorin Nicole Galland gemeint.
"Du führst ein angenehm unspektakuläres Leben. Mal sehen, ob wir das ändern können." Diese Worte bekommt die karrieremäßig frustrierte Linguistik-Dozentin Melisande Stokes von der Harvard University bei ihrer ersten Begegnung mit dem rätselhaften Tristan Lyons zu hören. Lyons, der einmal treffend mit den Worten charakterisiert wird, dass er die Energie eines Labrador-Retrievers habe, arbeitet für eine ungenannte Behörde. Und obwohl er nahezu alle Fragen Melisandes mit dem Kommentar "Verschlusssache" abblockt, lässt sie sich von ihm mitreißen und schließt sich seinem Projekt an.
Da stimmt doch was nicht ...
Bereits in den allerersten Kapiteln kommen zwei Verdachtsmomente auf. Eines davon, das zunächst auch von Melisande geteilt wird: Tristan könnte einfach nur ein Spinner sein. Diese Befürchtung kann Melisande aber ablegen, als das Projekt in Gang kommt und der vermeintlich solo agierende Tristan ganze Scharen von Mitarbeitern aufmarschieren lässt. Die Organisation D.O.D.O. existiert also tatsächlich – auch wenn es lange dauert, bis Melisande endlich darauf kommt, dass das Akronym für "Department of Diachronic Operations" steht und sich um eine sehr eigenwillige Form von Zeitreisen dreht.
Der zweite Verdacht wird um einiges unauffälliger, aber ebenfalls von Anfang an genährt. Die historischen Dokumente, die angeblich belegen, dass Magie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wirklich funktioniert haben soll, kommen einem ebenso subtil seltsam vor wie Tristans und Melisandes Reaktion darauf. Das und die mehrmalige Erwähnung des Kaufmannsgeschlechts der Fugger lassen einen Verdacht keimen, der sich bestätigen wird, wenn erstmals ein weltbekanntes Gebäude namens "Trapezoid" erwähnt wird ...
Zeitreisen einmal anders
Neal Stephenson und Nicole Galland, die schon für das Online-Werk "The Mongoliad" zusammengearbeitet haben, präsentieren uns eine Variante von Zeitreisen, die man in der Form tatsächlich noch nicht gelesen hat. US-Autorin Kage Baker ließ in ihren "Company"-Romanen Zeitreisende wertvolle Gegenstände aus der Vergangenheit bergen, indem sie diese an einem sicheren Ort verwahrten, bis sie Jahrhunderte später entnommen werden konnten. Das versucht D.O.D.O. zwecks Eigenfinanzierung auch, doch ist es hier wesentlich schwieriger: Eine Art Quantenunschärfe der Zeit macht es erforderlich, dass man eine solche Mission mehrfach in verschiedenen Zeitsträngen durchführen muss, bis gewissermaßen die Zeit selbst den Vorgang als Tatsache akzeptiert. Und wenn in nur einem Strang etwas schiefläuft, muss man wieder von vorne anfangen, wie uns eine unfassbar umständliche Bergungsaktion in den ersten Kapiteln vor Augen führt.
Kein Wunder, dass Hexen Zeitreisen stets für die ineffektivste Anwendung von Magie hielten. – Richtig, Hexen: Ihre magische Begabung bestand bzw. besteht genau genommen darin, dass sie über ihren Zeitstrang hinausblicken und sogar wechseln können. Ein magischer Effekt bedeutet also nichts anderes, als dass sie eine Realität gegen die gewünschte andere austauschen. D.O.D.O. versucht nun ein Netzwerk mit all den Hexen der Vergangenheit aufzubauen, eine intertemporale Verkehrsverbindung. Als Knotenpunkt in der Gegenwart dient die vom schrulligen Professor Frank Oda entwickelte Ontische Dekohärenz-Kavität (ODEK): Sie ist gewissermaßen die Box, in die Schrödingers Katze gesteckt wird, und in der magielosen Gegenwart der einzige Ort auf Erden, an dem das "Zaubern" funktioniert.
Die nötige Zeitreiseinfrastruktur ist damit eingerichtet, doch wir ahnen schon, dass das Herumflicken an den Zeitsträngen noch zu einigen Verwicklungen führen wird. "Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O." lässt an Erzählungen wie Wolfgang Jeschkes "Der letzte Tag der Schöpfung", R. A. Laffertys "So frustrieren wir Karl den Großen" oder George R. R. Martins "Belagert" denken: allesamt Beispiele für Werke, in denen Eingriffe in die Zeit nach dem Trial-and-Error-Verfahren ungeahnte Folgen nach sich ziehen.
Bürokratische Evolution
Aufgebaut ist der mehrere Jahre überspannende Plot – siehe Titel – entlang der Entwicklung, die die Organisation D.O.D.O. nimmt. In der Anfangsphase legen Tristan, Melisande, Frank und Erszebet Karpathy (die letzte Hexe auf Erden und eine wahre Giftnudel) den Grundstein für das Projekt. Hier hat die Handlung die Turbulenz von Filmkomödien aus den 60er Jahren à la "Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten". Doch D.O.D.O. wächst und wächst, und mit jedem Neuzugang erhöht sich das Potenzial für Fehlentwicklungen. Letztlich ist der Roman nichts anderes als eine Satire auf die Evolution von Unternehmen und Organisationen.
Nicht, dass die Handlung damit weniger witzig würde: Zum Schreien komisch sind etwa die Fehlinterpretationen von Fakten, die ein neues (und bald versterbendes) Mitglied des Leitungsteams in seinen Protokollen hinterlässt. Ein zweiter, ebenso unfähiger Mann wird Tristan und Melisande sogar als neuer Chef vor die Nase gesetzt. Unfähige Karrieristen wie Roger Blevins sind geradezu symbolhaft für den Umstand, dass D.O.D.O. langsam in die Phase systemischer Sklerose eintritt. Die Bürokratie schwillt an – inklusive Diversitätsbestimmungen und der Produktion immer neuer Akronyme für jeden Lercherlschas. Letztere nehmen derart überhand, dass sich die Organisationsleitung gezwungen fühlt, eine Richtlinie und einheitliches Leitbild für prototypische Sprachbildung herauszugeben, um unfreiwillig komisch klingenden Akronymen vorzubeugen. Richtig: abgekürzt RUELPS.
Vollendete Formgebung
Rein formal ist der Roman als postmoderne Collage aus verschiedensten Textformen angelegt: Briefen, E-Mails, Tagebucheinträgen, Gesprächsprotokollen und sogar einem skaldischen Heldenlied – jeweils in unterschiedlichem Layout präsentiert. Ein äußerst geschickter Schachzug des Autorenduos ist, dass wir das zunächst gar nicht so wahrnehmen. Gut, wir nehmen zu Beginn zur Kenntnis, dass Haupt-Erzählerin Melisande ihren Text als Rückblick verfasst, während sie im viktorianischen London festsitzt (und sich heftig vor den zeitgenössischen Gestänken ekelt). Einen solchen Rahmen hat man ja bald einmal in einem Roman, und er steht einer ganz konventionellen Erzählweise keineswegs entgegen.
So scheint es zunächst auch hier zu sein: Melisandes Schilderungen erwecken zu Beginn den Eindruck eines "ganz normalen" Romans und lassen uns damit sanft in die Handlung gleiten. Wenn sich später die Erzählung in einander immer schneller abwechselnde Dokumente auflöst, sitzen wir längst in der Falle, das Buch hält uns gefangen. In einem kurzen Metakommentar macht sich Stephenson (oder Galland) dann sogar über die klassische Erzählweise lustig. Dann nämlich, wenn Blevins Melisande für ihre ausführlichen Schilderungen rügt: "Sind allesamt zu lang, redaktionell zu stark bearbeitet und offen gesagt kitschig." Das ist gewissermaßen ein "Ätsch!" an die Adresse der Leser. Denn hätten die beiden Autoren das Buch von Anfang an erkennbar collagenhaft gestaltet, hätte sich der eine oder andere vielleicht abschrecken lassen. Und dann ein wirklich gutes Buch verpasst.
"Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O." ist ein schönes Beispiel dafür, dass ein Werk inhaltlich wie formal komplex angelegt und dennoch mit größter Leichtigkeit lesbar sein kann. Ein Vergnügen, wie gesagt – und Fortsetzungen sind möglich.