Ry Cooder veröffentlichte 1974 das Album Paradise and Lunch. Das Cover schmeichelt ihm nicht unbedingt, aber seit Bo Diddley weiß man, dass man danach nicht gehen kann.

Warner

Die meisten kennen Drückfiguren: Das sind diese hölzernen Spielzeuge, deren Einzelteile innen mit federgespannten Schnüren verbunden sind. Drückt man unten auf den Knopf, lässt die Spannung nach, die Figur fällt zusammen – aber doch nie auseinander. So ähnlich funktioniert die Musik von Ry Cooder.

Alles scheint immer nur lose miteinander verbunden zu sein, doch bevor ein Song auseinanderfällt, kratzt er doch jedes Mal die Kurve. Es ist Instinktmusik im besten Sinn. Die Musiker geben ihrem Gefühl nach, schauen, wo es sie hinführt. Der Song wird zu einer vagen Vorgabe: Irgendwie hat er begonnen, irgendwie wird er wieder enden.

Offene Schuhbänder

Ry Cooder ist ein Meister dieser Arbeitsweise. Eine Weltkarriere lang taumelt er durch diverse Musikstile, zu seinem 70er vor bald zwei Jahren habe ich ihm hier gratuliert.

Auf seinen frühen Soloalben stolperte er bewusst unfertig ins seine Songs. Die Schuhbänder noch offen, der Schlagzeuger sucht seinen Hocker, kann jemand die Bläser wecken? Ist der Bass gestimmt? Und doch fällt dann alles traumwandlerisch dorthin, wo es hingehört.

Gefühl und Timing

Ein bisschen hat Cooder aber Anlauf gebraucht. Das hier gepriesene Album war immerhin schon sein viertes: Paradise and Lunch erschien 1974. Alle Alben davor hatten bereits mehr als nur ihre Momente, doch dieses ist das vielleicht beste seines Frühwerks.

Dabei muss man bei aller Begeisterung für den Mann sagen, große Stimme hatte er keine. Hatte, weil sich das über die Jahre dann doch zu seinen Gunsten verschoben hat. Doch was ihm an stimmlicher Autorität fehlte, machte er mit Gefühl und schrägem Timing wieder gut. Wobei die verwegenen Tempi auf die gesamte Band verteilt waren. Schon weil er immer wieder gleichgesinnte Mitspieler fand, gehörte der Mann aus L.A. mit Grammy beworfen.

Im Rhythm 'n' Blues verwurzelt

Das Programm von Paradise and Lunch erscheint typisch für den Cooder jener Zeit. Als Archäologe der amerikanischen Folk- und Bluesmusik stellte er es aus einer Mischung aus Traditionals und diversen Fundstücken zusammen.

Die Grundstimmung von Paradise and Lunch wurzelt im Rhythm 'n' Blues. Das offenbart sich sogar in Folksongs, denen ein aus dem Gospel kommender Backgroundgesang Breitseite verleiht. Der Opener Tamp 'em Up Solid zeigt das: Beserlschlagzeug, Cooder verliert sich an der Akustischen, ein paar "Whoos!" und "Wheez!" ertönen im Hintergrund, mehr braucht es nicht, um das Publikum ins Album zu führen. Dann geht's los.

Schmelz und Schmalz

Tattler ist ein wunderbares Kleinod, ein, an Cooders Maßstäben gemessen, fast glatter Song, aber dennoch mit genug Nischen und Ecken ausgestattet, in denen sonderbare Geräusche auftauchen, Gefühle wuchern, der Chor sich eingroovt und Streicher für Schmelz und Schmalz sorgen.

Tattler – ein gefühliges Kleinod: "If you married the wrong kind of woman ..." Ein Lied über schlechtes Glück.
Vws Vas

Dann folgt das Herzstück des Albums. Es ist ein Tryptichon aus Married Man's A Fool, Jesus On The Mainline und It's All Over Now. Man sollte sich die drei Songs immer in einem Stück anhören. Sie verschränken sich in Stimmung und Form, dass es nur so eine Art hat. Married Man's A Fool stammt vom Blueser Blind Willie McTell. Der Song rumpelt, Cooder gibt den launigen Erzähler.

Ein Lied über den Irrtum des Heiratens. Married Man's A Fool von Blind Willie Mc Tell.
Kenneth Brown

Die Produktion ist satt und trägt im folgenden Jesus Is On the Mainline weiter auf. Das Traditional ächzt und stöhnt wie ein alter Blasbalg, und dennoch besitzt es eine eigene Eleganz: Die Hörner, der stolpernde Beat, Cooders Gitarre, dazu der Call-and-Response-Gesang – und irgendein Wino rasselt mit dem Tamburin.

Jesus ist am Apparat. Sag ihm, was du gerne hättest.
nannokanno

Das Beste aus diesen beiden Songs findet dann in It's All Over Now seine Fortsetzung: Ein Trennungs-Gstanzl von Bobby und Shirley Womack, das in Schräglage zwischen Herzschmerz und Befreiungsekstase um die Häuser zieht.

Befreiungsekstase und Herzschmerz gehen auf ein Getränk: It's All Over Now.
MyMoppet52

Das Albumcover illustriert die geniale Mischung dieses Albums nur bedingt. Cooder schaut darauf aus wie ein Besoffener aus einem Sam-Peckinpah-Western, der die nächste Szene nicht überleben wird. Der handgeschriebene Titel – alles sehr seltsam. Am stimmigsten sind noch die Cocktailgläser.

Goldene Zeit der Musikindustrie

Dennoch: aus heutiger Sicht sind diese frühen Cooder-Alben ja allesamt Wunderwerke. Sie entstanden während der goldenen Zeit der Musikindustrie, als diese sich Künstler wie Cooder leistete, ihnen über viele Jahre und Alben Gelegenheit gab, sich zu entwickeln. Warner Brothers war besonders großzügig. Chef Lenny Waronker, der dieses Album mitproduziert hat, war davon überzeugt, dass sich Qualität früher oder später gegen Trends durchsetzen würde. Glory Days – und natürlich hat er recht behalten.

In der Zwischenzeit haben wir das Album umgedreht. Cooder zupft gerade das Medley Fool For Cigarette / Feelin' Good – zwei zu einer verschmolzene Oden an die Laster, bevor er in das ebenfalls mit der Sünde kokettierende If Walls Could Talk einfällt. Den Song hat Little Milton 1970 bekannt gemacht. Cooder lässt seine Gitarre winseln, den Backgroundchor jubilieren, das Keyboard sorgt für Soul-Feeling, während er verschwörerisch "Ain't too bad that walls don't talk" singt.

Kein Schaden, dass Dinge nicht reden: If Walls Could Talk.
ThereforeIAm0

Von der Geheimnispflicht fahler Wände geht es weiter zu Burt Bacharachs Mexican Divorce. Der Song deutet bereits Cooders Interesse an mexikanischer Musik an, der er sich mit dem Akkordeonspieler Flaco Jimenez ein Album später ausgiebig widmen wird. Es sollte eine Liebe sein, die bis heute anhält.

Nach dem Laufpass

Mexican Divorce ersäuft nachgerade in Gefühl. Es ist ein Song, zu dem Mann sich in der Cantina mit Cerveza und Tequila das Herz nach dem Laufpass der Gattin erstversorgt. Mit Arthur Blakes Blues Ditty Wah Ditty endet Paradise und Lunch. Am Piano klimpert Earl Hines. Dessen Genie hat das Piano einst jazztauglich gemacht. Cooder spendete er 1974 eine kleine Fingerübung; die Drückfigur tanzt dazu.

Mit Sir Earl Hines an den Tasten empfiehlt sich Ry Cooder: Ditty Wah Ditty.
Bob Lange

Im Rückblick war Paradise and Lunch nicht nur eine famose Einzelleistung, sondern zugleich ein Versprechen für das, was Cooder uns seither noch alles beschert hat. Fast immer spannende Entdeckungen aus der Urzeit der Populärmusik. Sei es die Kunst des Joseph Spence, das Revival alter Kubaner über den Buena Vista Social Club, afrikanischer Blues oder Tex-Mex-Attacken aus dem Grenzland ... – oder seine Soundtracks (The Border, Crossroads, Paris, Texas …), in denen sein Slide-Spiel oft die halbe Atmosphäre des Films besorgte. Der Keimling für all das trieb auf Paradise and Lunch erstmals seine wundersamen Blüten. (Karl Fluch, 15.1.2019)