Wien – "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht" lautet einer dieser Sinnsprüche, die bei näherer Betrachtung einen völligen anderen Sinn haben. Denn Psychologen sind sich einig, dass ausnahmslos jeder Mensch täglich lügt – demgemäß sollte das Sprichwort dazu führen, keinem Menschen mehr zu trauen.

Im Fall von Mamadou S. könnten frühere Unwahrheiten aber dazu führen, dass der 40-Jährige lebenslang ins Gefängnis muss. Für einen Mordversuch vor mehr als 15 Jahren, genauer am 23. Dezember 2003, im Wiener Lokal Reigen. Momodan J. erlitt dort in der Nacht einen Herzstich, der eine lebensgefährliche Verletzung verursachte und eine Notoperation sowie neun Tage künstliches Koma notwendig machte.

Zugestochen soll Mamadou S. haben, der dies in seinem Prozess wegen versuchten Mordes vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Ulrich Nachtlberger bestreitet. Mit recht eindeutiger Begründung: Er sei am Tattag gar nicht mehr in Österreich gewesen, sondern bereits in seiner jetzigen Heimat Schweden, wo der Unbescholtene mittlerweile verheiratet ist, zwei Kinder und einen Job hat.

Bei USA-Reise festgenommen

Warum es erst jetzt zu einem Verfahren kommt? Der aus Gambia stammende S. hatte im Jahr 2003 bei seinem Asylantrag den Vornamen seines Bruders und ein falsches Geburtsdatum verwendet – ein internationaler Haftbefehl ließ sich also nicht vollstrecken. Aufgeflogen ist er erst im Vorjahr: Er wollte im Sommer in die USA einreisen, die Abnahme der Fingerabdrücke an der Grenze enttarnten ihn.

Es war nicht sein einziger situationselastischer Umgang mit Fakten. In Schweden meldete er sich erst 2007 nach Jahren illegalen Aufenthalts bei den Behörden – und gab als Einreisedatum den Dezember 2004 an. Nachtlberger und Beisitzerin Eva Brandstetter arbeiten danach den Lebensweg von S. heraus: Im Jahr 1994 kam er von Gambia zu seinem Bruder nach Deutschland und stellte dort unter seinem richtigen Namen einen Asylantrag. Der wurde abgelehnt, 2002 kehrte er in sein Geburtsland zurück, um es 2003 in Österreich mit einer neuen Identität zu versuchen.

Kritik an Ermittlungsmethoden

"Es mag schon sein, dass in Asylverfahren manchmal gelogen wird, aber hier geht es um einen Mordprozess, das muss man klar unterscheiden. Und hier sagt er die Wahrheit", appelliert Verteidigerin Claudia Fessler an die Geschworenen. Und sie kritisiert, dass die Polizei dem Opfer und den Zeugen damals immer nur ein einziges Foto gezeigt habe: das Bild des Angeklagten.

Außerdem hat sie einen Entlastungszeugen aufgetrieben, der per Videoschaltung in Schweden vernommen wird. Ein Kindheitsfreund aus Gambia, der beteuert, dass S. nach seiner Ankunft am 4. Dezember 2003 bei ihm gewohnt habe. "Woher wissen Sie das Datum noch so genau?", wundert sich Nachtlberger. "Weil ich am 1. Dezember meinen Job bei der schwedischen Post begonnen habe", antwortet der Zeuge.

Unauffindbare Belastungszeugen

Das Opfer, das bei seiner Einvernahme vor 15 Jahren den Angreifer nicht eindeutig identifizieren konnte, ist sich nun "hundertprozentig" sicher, dass es S. war, der ihn angestänkert und dann attackiert habe. Zwei Belastungszeugen, die S. einst beschuldigt haben, sind nicht mehr auffindbar, ihre damaligen Aussagen werden daher verlesen. Allerdings: Einer dieser Männer sprach davon, dass der Angeklagte im 21. Bezirk gewohnt habe, S. beteuert, nur im 14. gelebt zu haben.

Die Geschworenen sprechen ihn mit sieben zu einer Stimme rechtskräftig frei, die im Saal anwesende Gattin quittiert das mit Freudentränen. (Michael Möseneder, 8.1.2019)