Martin Meyer: "Gerade gestern. Vom allmählichen Verschwinden des Gewohnten." € 23,70 / 320 Seiten. Hanser 2018

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Gestern. Für die einen ist das Staub, nichts mehr, nichts weniger. Für andere ist das Gestern wiederum das bessere Heute. Mit mehr Sonne, mehr Schnee, mehr Lametta. Was ist es nun für Martin Meyer? Eine Causa des Erinnerns an lange Sonntage, an denen in den späten 1950er-Jahren die Familie plus Verwandte nach dem Kirchgang zum Speisen aufbrach, die Zeit träge ins Stocken geriet, bevor am nächsten Tag das Leben wieder alles Ungebührliche verlor.

Der 1951 geborene Zürcher war mehr als 40 Jahre für die Neue Zürcher Zeitung tätig. Im Alter von 22 Jahren trat – ein anderes Wort drängt sich für diese Hochzeit des Kulturjournalismus nicht auf – Meyer dem Feuilleton der Schweizer Tageszeitung bei, dem er bis 2015 23 Jahre lang vorstand. In dieser Zeit publizierte er auch Bücher über Ernst Jünger, das Übersetzen, das Ende der Geschichte, Albert Camus sowie Gesprächsbände mit den Pianisten Alfred Brendel und András Schiff. Mit seiner Pensionierung erlosch zugleich die intellektuelle Brillanz der Kulturseiten des Blattes.

Fossilien der Altvorderen

Nun präsentiert er eine Promenade in 86 Stationen, lies: Feuilletons, ein jedes davon drei bis vier Buchseiten kurz. Von Automarken über die Dauerwelle reicht der Parcours, vom Grammofon über Lokomotiven zu Karl May, dem Inkognito, den Supermodels, dem Bleisatz, der Kleinanzeige und dem Playboy. Verdunstetes, von der Hektik und der Kurzatmigkeit des Digitalen Abgedrängtes also, Fossilien der Altvorderen.

Zwischen Nostalgie und Gegenwartspathos, annonciert er, wolle er hindurchnavigieren. So ganz erfüllt sich das zwar nicht. Dafür entschädigt Meyer überreich mit scharfsinnigen Beobachtungen, biografischen Vignetten und anekdotischen Blitzlichtern von Begegnungen mit E. M. Cioran und Georges Simenon sowie langer nächtlicher Telefonate mit dem einsiedlerischen Philosophen Hans Blumenberg und dem kanadischen Pianisten Glenn Gould.

Bei manchem wäre zu fragen, ob sie tatsächlich der Rubrik des Verschwindens zuzurechnen sind, Alfred Brendel etwa oder der Philosoph Hermann Lübbe. Wenn ihm allerdings etwas besonders am Herzen liegt, dann entfaltet sich, beispielhaft im Stück über die Tramlinie, mit der er jahrelang zur Schule fuhr, und die Tätigkeit des Trambahnkondukteurs, liebevoll "Kondi" genannt, die deutsche Sprache in all ihrer grandiosen Schönheit. Da wirbelt sie auf, schillert prachtvoll und kommt geradezu lustvoll ins Schweben. (kluy, 3.1.2019)