Es gibt eine berühmt gewordene Szene aus dem Werk des surrealistischen Filmemachers Luis Buñuel. In dem 1974 entstandenen "Gespenst der Freiheit" findet man sich bei Tisch nicht zum Essen, sondern zum gemeinschaftlichen Stuhlgang ein. Als ein kleines Mädchen sagt, es habe Hunger, wird es empört zurechtgewiesen. So etwas sagt man doch nicht am Tisch. In der nächsten Sequenz zieht sich einer der Gäste in eine verschließbare Kammer zurück. Es handelt sich um das Speisezimmer, in dem jeder separat für sich isst, ohne die anderen damit zu belästigen.

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Im Video ab Minute 7:06. 

Worauf die Verbotskultur zusteuert

Luis Buñuel nimmt mit dieser satirischen Umdrehung natürlich die guten Sitten des Bürgertums aufs Korn. Etwas von der bewusst absurden Zuspitzung dieser Szene ist aber im September 2018 im Regelwerk der Wiener Linien tatsächlich Wirklichkeit geworden. Offenbar haben sich die Zeiten so sehr geändert, dass man inzwischen allen Ernstes der Meinung ist, dass ein ungeniert in aller Öffentlichkeit Speis und Trank zu sich nehmender Mensch eine derartige Zumutung für die Allgemeinheit darstellt, dass so etwas nicht mehr geduldet werden darf. Und das Problem scheint dermaßen groß zu sein, dass die Regelung ab 15. Jänner 2019 auf alle U-Bahn-Linien ausgeweitet wird.

Hier muss ich kurz innehalten. Rauchverbot – nachvollziehbar, Passivrauchen ist gesundheitsschädlich. Und wie kommt ein Asthmatiker in der U-Bahn dazu, den Qualm einatmen zu müssen? Alkoholverbot – auch das kann man einsehen. Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass von Alkoholisierten im öffentlichen Raum gelegentlich ein zumindest subjektives Unsicherheitsgefühl ausgeht. Hier also greifen die Rationalisierungen so recht und schlecht.

Spätestens beim Essverbot merkt man aber, dass etwas seltsam ist an der sich ausweitenden Verbotskultur. Und irgendwann kann man sich des Eindrucks nichts mehr erwehren, dass das Verbote um der Verbote willen sind. Mehr noch: allmählich merkt man, es wird gefährlich. Denn wenn schon der Duft meines Essens dem anderen nicht mehr zumutbar ist, dann als nächstes vielleicht auch nicht der Anblick meines Gesichts oder der Stil meiner Kleidung. Irgendwann wird alles, was früher mal im Leben als bunt und bereichernd gegolten hat, in Steriles und Gleichförmiges verwandelt worden sein, aus Sorge, man könnte durch irgendetwas die Umwelt belästigen. Alles, was ein wenig unangenehm für einen anderen sein könnte, hat aus der öffentlich wahrnehmbaren Wirklichkeit zu verschwinden. Eine gigantische Glasglocke wird uns übergestülpt. Neue Verbote und politische Korrektheit treiben uns Schritt für Schritt geradewegs auf eine allumfassende Disziplinierung nicht nur unserer Sprache, sondern überhaupt unseres gesamten Alltagslebens zu. Und irgendwann nimmt das schon Orwellsche Dimensionen an.

Zuerst wird das Essen in der U-Bahn verboten, was folgt als nächstes?
Foto: Getty Images/iStockphoto/Jelena990

Auf dem Weg zu einem neuen autoritären System …

Umso bedenklicher scheint es, dass das Bedürfnis nach neuer Disziplinierung und einer starken Hand, die endlich wieder durchgreift, mittlerweile quer durch alle politischen Richtungen geht. FPÖ und Grüne unterscheiden sich augenscheinlich nur mehr dadurch, was, also welches Verhalten sie jeweils am liebstes als Nächstes gerne verbieten oder verordnen würden. Die einen wollen beispielsweise Asylwerbern den Ausgang und Schülern den Gebrauch von Fremdsprachen in den Pausen sowie das Kopftuch verbieten, die anderen dafür die Rituale und Uniformen der Burschenschaften auf den Universitäten oder Veteranentreffen, oder sie wollen jeden als Nazi brandmarken, dem statt "Novemberpogrom" der angeblich euphemistische Ausdruck "Reichskristallnacht" herausrutscht (vor zwei Jahrzehnten übrigens noch ein durchaus auch unter den Linken selbst geläufiger Begriff). Im Grundsätzlichen, nämlich dass verboten und verordnet werden soll, sind sich aber alle Seiten erstaunlich einig.

Die Politik holt sich etwas von ihrem Gestaltungswillen zurück, könnte man glauben, wenn man das positiv sehen möchte. Ob die vielen kleinen und großen Verbote, die nun gefordert werden, nicht viel eher ein Ersatz für wirkliche Politik sind, die diesen Namen verdient, also das, was Denker wie Slavoj Žižek und Robert Pfaller kritisch "postmoderne Pseudopolitik" oder "Post-Politik" nennen, diese Frage drängt sich allerdings auf. Eins sind sie sicher: Einübung in autoritäres Bewusstsein.

Irritiert stellt man fest, mit was für seltsamen Worten sogar ein – seiner eigenen Selbsteinschätzung nach jedenfalls – liberaler Kolumnist das Essverbot in der U-Bahn begrüßt und nach dem starken Mann ruft: "Wo er recht, da hat er recht, der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig", beginnt im gebieterischen Stammtischton Hans Rauscher sein diesbezügliches Einserkastl, um einem am Schluss mit dem Zeigefinger zu erklären: "Aber manche legen die neue gesellschaftliche Freiheit etwas zu exzessiv aus. Da hilft nur ein Verbot."

Und er meint das, fürchte ich, im Ernst. Mittlerweile sind wir wieder so weit. Dass es von einer solch unsensiblen Formulierung nur mehr einen Schritt braucht, um zu Sätzen wie "Unterm Hitler hätt’s des net gebn!" zu gelangen, und dass, derartig allgemein gehalten, solche altvaterischen Äußerungen schon deswegen beängstigend sind, weil man damit alles und jedes rechtfertigen kann, selbst einen neuen Faschismus, das scheint Rauscher nicht bewusst zu sein.

 … und mehr Polizeigewalt

Wozu man die Einübung in das neue autoritäre Bewusstsein braucht, wird klarer, wenn man sich andere, wesentlich ernsthaftere Dinge anschaut, die derweil rundherum in der Gesellschaft geschehen, die aber vielleicht nicht zufällig weniger präsent in der Öffentlichkeit sind als die künstlich hochgespielten Debatten über unzumutbares Pizza-Essen in der U-Bahn oder über richtiges Gendern.  

Auf Facebook kursiert beispielsweise derzeit ein im Zuge des Jahresrückblicks veröffentlichtes Video des deutschen Fernsehmagazins "Monitor" betreffend Übergriffe und Misshandlungen durch die Polizei:

Was dabei besonders aufhorchen lässt: Durch eine Änderung des deutschen Strafrechts im Jahr 2017 wurden die Rechte der Polizei gegenüber den Bürgern gestärkt. Opfer von Polizeigewalt haben nun noch weniger als bisher eine Chance, sich juristisch zur Wehr zu setzen.

Das passt doch zusammen: Eine Welt, in der der Bürger immer weniger darf und in der in seinen kleinen Aktivitäten eine massive Bedrohung gesehen wird – während die Polizei gleichzeitig dafür immer mehr mit dem Bürger machen darf.

Beschäftigungstherapie für die Bevölkerung

Tatsächlich wird in den österreichischen Medien das Drama des Essens in der U-Bahn nicht nur umfassender und mit einem größeren ethischen Ernst diskutiert als das Problem von Polizeigewalt, sondern auch als die Ursachen von Hunger, Krieg, Leid und wirklichem Elend auf der Welt. Das ideologische Feld der Political Correctness hat das, was einmal der öffentliche Raum eines ernstzunehmenden intellektuellen Diskurses war, der diesen Namen auch verdiente, in eine Provinzposse verwandelt. Wo es nicht ums Essverbot geht, setzt sich der politisch engagierte Mensch heutzutage nicht mehr, wie das früher mal der Fall war, etwa mit einer grundsätzlichen Infragestellung realer Herrschafts- und Machtverhältnisse auseinander – nein, er entdeckt auf Facebook eine Frau, die in eine Zitrone beißt und rügt den Landwirten wegen Sexismus. Oder er setzt die Behauptung in die Welt, das Wort "blind" sei herabsetzend und man sage ab nun besser "visuell herausgefordert". Er lässt die Bevölkerung darüber streiten, ob man nun zwei oder drei Geschlechter oder nur doch nur eins auf den Toiletten braucht. Und darüber, ob man noch "Mohr im Hemd" sagen darf oder nicht, und warum bei Pippi Langstrumpf das N-Wort gestrichen gehört. Oder darüber, ob die "Töchter" in der Nationalhymne vorkommen sollen oder nicht, und ob man nun "Frau Doktor" oder "Frau Doktorin" sagt.

Alle intellektuelle Energie wird inzwischen von solch aufgeblasenen Debatten aufgezehrt. Eine wahrhaftig umstürzlerische Bewegung von tatsächlich gesellschaftlich Unterprivilegierten wie die Gelbwesten gilt dem Linksliberalen heutiger Prägung aber als anrüchig, dazu begibt er sich auf Distanz, oder wenigstens kann er damit nichts anfangen – außer dass er seine Sorge um die Stabilität Europas bekundet.

Dass das praktisch ist für die Herrschenden, ist klar. Und es weist auf etwas hin, was man einmal beim Namen nennen muss: eine massive Umstrukturierung der geistigen Elite Westeuropas und der USA, die aus einem synergetischen Effekt von neoliberaler Ordnung und postmoderner Ideologie in den letzten Jahrzehnten hervorgegangen ist.

Unverhältnismäßigkeit

Man verstehe mich nicht falsch. Sexismus, Rassismus und ein rücksichtsvoller Umgang zwischen Rauchern und Nicht-Rauchern sind durchaus wichtige Themen. Und erst recht soll nicht die grundsätzliche Notwendigkeit von Regeln für das menschliche Zusammenleben in Frage gestellt werden. Allmählich springt allerdings doch eine bizarre Unverhältnismäßigkeit ins Auge, die charakteristisch für die heutige Zeit zu sein scheint. Auffällig ist beispielsweise, dass die öffentliche moralische Empörung über die in der Tat bedenklichen Sex-Aussagen Donald Trumps größer war als die über seinen riesigen Waffen-Deal mit Saudi-Arabien. Auch auf die Verantwortlichen für den menschenrechtswidrigen Drohnen-Krieg, den schon Obama vorangetrieben hat, wird weniger Druck ausgeübt als auf Konzernmitarbeiter oder Angehörige des Wissenschaftsbetriebs, sich ja nichts zu erlauben, was an einen sexistischen oder rassistischen Witz auch nur streift.   

Wenn ich die Zeitung aufschlage, dann hätte ich gerne Informationen darüber, wer aller eigentlich auf der Welt Waffen nach Syrien und in andere Krisenherde der Welt liefert und sich dumm und dämlich damit verdient. Aber nimmt man die Aufmerksamkeitsspannen der Medien, die Intensität von Debatten und politische Maßnahmen als Maßstab, sind in der U-Bahn essende Leute oder dort mit gespreizten Beinen herumsitzende Männer offenbar eine größere Bedrohung als der internationale Waffenhandel.

Legitimation herrschender Ordnung

Pfaller weist daraufhin, wie obskur es ist, dass gerade dieselben westlichen Kulturen, die sich ganz besonders den Anschein grenzenlosen Zartgefühls zu geben imstande sind, wenn es um die Wahrung politisch korrekten Verhaltens gegenüber Frauen, sexuellen Minoritäten und Angehörigen fremder Ethnien geht, ungeachtet dessen gleichzeitig eine neoliberale Brutalisierung der Lebensverhältnisse betreiben und die Welt mit grausamen Kriegen überziehen.

Man kann in unserer Zivilisation als einzelner vor die Hunde gehen, auf der Straße landen oder als Kollateralschaden einer militärischen Intervention enden, ohne dass es die Öffentlichkeit weiter aufregt. Gleichzeitig ist man um das anständige Benehmen besorgt und hat das alles immer hübsch politisch korrekt vonstatten zu gehen.

Vielleicht ist das aber auch gar kein Widerspruch, meint Pfaller, sondern steht in einem Zusammenhang. Die Moralapostel der Politcal Correctness haben die Aufgabe, der sozialdarwinistischen Ordnung die humanistische, freundliche, liberale und progressive Fassade zu liefern. Man betreibt "Mikropolitik", wie es im postmodernen Jargon heißt, man kämpft gegen die vielen kleinen Ungerechtigkeiten, um die großen vergessen zu machen. Man beschäftigt sich mit speziell ausgewählten Randphänomenen, mit erlesenen Problemen der Diversität und Vielfalt, um die sozialen Unrechtsverhältnisse im Großen und Grundsätzlichen unangetastet zu lassen und zu verschleiern. Das System als Ganzes soll nicht in Frage gestellt werden. Die postmoderne Pseudo-Linke habe, so meint Pfaller, in Wahrheit jede fundamentale Gesellschaftskritik aufgegeben.

Politisch korrekt in die Barbarei

Eine spontane Assoziation: Von der deutschen Aktivistin und Gesellschaftskritikerin Jutta Ditfurth gibt es ja bekanntlich ein Buch mit dem Titel "Entspannt in die Barbarei", das sich gegen Esoterik, New Age und Heilslehren wendet.

In lockerer Anlehnung daran sind durchaus skrupellose Waffenhändler vorstellbar, die auf der Skala des richtigen Genderns und der politischen Korrektheit – nicht zu vergessen: Essverbot in der U-Bahn! – von unseren moralischen Gremien eine Eins bekommen. Unsere Gesellschaft bewegt sich auf eine politisch korrekte Barbarei zu. (Ortwin Rosner, 7.1.2019)

Literaturhinweise

  • Robert Pfaller: Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur. (Frankfurt am Main: Fischer 2017)
  • Slavoj Žižek: Ein Plädoyer für die Intoleranz. (Wien: Passagen 1998)

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