Symbolträchtige Geste als rarer Beitrag zur Geschichtsaufarbeitung: der französische Präsident François Mitterrand (li.) und Deutschlands Kanzler Helmut Kohl am 22. September 1984 über den Gräbern von Verdun.

APA / dpa / Wolfgang Eilmes

Zwei Männer im Zweiten Weltkrieg. Der eine ist Mitglied der NSDAP und arisiert ein jüdisches Unternehmen in seiner Heimatstadt Mannheim. Der andere, aus dem französischen Jura gebürtig, dient während der deutschen Besatzung dem von den Nationalsozialisten installierten Vichy-Regime als Gendarm.

Die beiden Männer sind die Großväter der 1974 geborenen französisch-deutschen Journalistin Géraldine Schwarz, die mit ihrem Buch Die Gedächtnislosen (Secession-Verlag, 28,80 Euro) angetreten ist, eine Schneise in das vom familiären Schweigen überwucherte Vergangenheitsdickicht zu schlagen. Derlei, mag man einwenden, kennt man bereits bis zum Abwinken. Doch so wie bei Schwarz hat man es noch nie gelesen, nicht in dieser Dichte, nicht in dieser quellenfundierten Klarheit. Es geht um kollektives Nichtwissen, Wegrelativieren und Verleugnen in der Nachkriegszeit und die spät einsetzende Geschichtsaufarbeitung bis heute.

Man redete wenig

Die Autorin, die in Frankreich aufwuchs, ihre Ferien stets in Mannheim verbrachte und in beiden Ländern studierte, entwickelt ihre Geschichte von der Nachkriegskindheit ihrer Eltern und ihrer Großväter. Der französische starb früh und redete wenig, nicht nur über seinen Dienst als Gendarm, sondern auch über das vor der Haustür gelegene Lager Drancy nahe Paris, von wo aus die Mehrheit der 76.000 aus Frankreich deportierten Juden in den Tod geschickt wurden.

Das Schweigen darüber, was sich in diesem zentral gelegenen Lager, einem gigantischen ehemaligen Sozialwohnungskomplex, abgespielt hatte, war so umfassend, dass Schwarz' Mutter noch als Jugendliche keinerlei Kenntnis davon hatte. "Frankreich braucht keine Wahrheiten; Frankreich braucht Hoffnung", sagte de Gaulle 1971.

Es sollte dann bis ins Jahr 1995 dauern, dass Frankreich die Mitverantwortung des französischen Staates für die Beihilfe beim "kriminellen Wahnsinn des Besatzers" anerkannte. Die Geschichte des deutschen Großvaters, Karl Schwarz, ist besser dokumentiert als die seines französischen Pendants. 1938 hatte er drei jüdischen Brüdern ein Mineralölgeschäft vor den Novemberpogromen abgekauft, weit unter Preis und unter Zwang. Denn die "Entjudung" der deutschen Wirtschaft machte Geschäfte für jüdische Bürger kaum mehr möglich.

Nur einer der Brüder überlebte und forderte von Karl Schwarz Reparationszahlungen, was dieser ablehnte – auch da er das Ansinnen als zutiefst ungerecht empfand. Der Schlussstrichmentalität und dem mangelnden Unrechtsbewusstsein sind weite Passagen des Bandes gewidmet. Wobei die Autorin nicht verurteilt, sondern versucht, Verhalten in den politischen Kontext der Zeit einzuordnen. Und Letzterer war auch nach dem Krieg eindeutig.

Genug von Nazis

Konrad Adenauer, Deutschlands erster Nachkriegskanzler, meinte 1951, von der Frankfurter Rundschau damit konfrontiert, dass zwei Drittel der leitenden Positionen seines Außenministeriums mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt waren: "Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei Schluss machen."

Das alles ist nicht neu, es wird aber in diesem Buch, das das Potenzial zur Schullektüre hat, geballt aufgearbeitet. Natürlich werden auch die späteren Auschwitz-Prozesse, die 1968er-Bewegung und die RAF thematisiert. Wobei Schwarz die Fäden ihrer Familienerzählung nicht nur zu einem Tableau der deutsch-französischen Nachkriegsgeschichte verknüpft, sondern auch in andere Länder blendet, die von den Nazis besetzt waren oder selbst faschistische Führungen hatten: die DDR etwa, Ungarn, Italien oder die baltischen Staaten. Und natürlich befasst sie sich mit Österreich, das vom Gedächtnisschwund im Nachkriegseuropa nicht verschont blieb. Ganz im Gegenteil.

Die Autorin hat sich länger in Österreich aufgehalten und widmet dem Land viele Seiten. Sie besucht das Jüdische Museum, recherchiert im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, schreibt über den Liederbuchskandal und schildert, wie der ehemalige SS-Sturmbannfüher und verurteilte Kriegsverbrecher Walter Reder 1985 nach 33 Jahren Haft in Italien begnadigt und vom Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager (FPÖ) am Flughafen per Handschlag empfangen wurde.

Ein seltsamer Geruch

Am Schluss des Bandes besucht Schwarz am 3. März 2018 den "Kongress der Verteidiger Europas", der im Wasserschloss Aistersheim (OÖ) stattfand. Es zeigt sich in diesen Passagen, in denen sie Redner und Reden kurz skizziert, dass Schwarz eine gute Reportageschreiberin ist. Man nimmt ihn förmlich wahr, den "Geruch von Geschichtsrevisionismus", der sich durch den Kongress zieht: "Es ist derselbe Geruch, der im Raum schwebt, wenn Marine Le Pen sagt, Vichy, das 'ist nicht Frankreich', sondern doch nur eine kleine Gruppe von Kriminellen gewesen, oder (...) wenn Viktor Orbán in Ungarn Admiral Horthy und den faschistischen Schriftstellern Ehre erweist."

Die Gedächtnislosen ist ein großes Manifest für die Gedächtniskultur, mit der Schwarz die in Europa zunehmend umgehenden Gespenster des Autoritarismus zu bannen hofft. Vor allem aber ist es ein Buch, das danach fragt, wie individuelle Verantwortung wahrgenommen wird. Nicht nur in politischen Extremsituationen, denn Schwarz analysiert sehr grundsätzlich die Reflexe von "Konformismus, Opportunismus, Gleichgültigkeit, Verblendung oder Angst (...), die das Verhalten einer Gesellschaft und ihrer Bürger im Kontext einer Krise bestimmen". Lesenswert. (Stefan Gmünder, 28.12.2018)