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So süß, dass man schreien möchte? Von Japan aus hat sich das ästhetische Konzept des "Kawaii", der Kult um Niedlichkeit, zunächst in andere Länder Ostasiens und schließlich über die ganze Welt ausgebreitet.
Foto: AP Photo/Kin Cheung

Riverside – 2013 stellte die US-Psychologin Rebecca Dyer auf einer Fachtagung das paradox erscheinende Phänomen der "Cute aggression" vor. Damit bezeichnete sie den Impuls, auf etwas, das wir als ausnehmend niedlich empfinden, mit tendenziell aggressivem Verhalten zu reagieren.

Das klingt im ersten Moment völlig abstrus, wird aber klarer, wenn man sich Beispiele vor Augen führt. Dazu gehört etwa, ein Baby vor Entzücken ganz leicht in die Wange zu kneifen, einen Welpen spielerisch zu beißen oder ein fließender Übergang vom herzlichen Drücken zum Quetschen: Verhaltensweisen also, die die meisten schon einmal beobachtet oder sogar selbst gezeigt haben dürften. Nichts davon richtet Schaden an oder ist auch nur böse gemeint: Trotzdem sind es nüchtern betrachtet aggressive Akte, wenn auch in ihrer mildesten Form.

2015 führte ein Team der Uni Yale eine erste Studie zum Thema durch. Durch sie wurde auch die Neurowissenschafterin und Psychologin Katherine Stavropoulos von der University of California in Riverside darauf aufmerksam. Sie baute auf den Ergebnissen der Yale-Forscher auf und ergänzte deren Studiendesign mit einer Messung der Hirnaktivität ihrer Probanden. Die Ergebnisse sind im Fachmagazin "Frontiers in Behavioral Neuroscience" erschienen.

Das Experiment

Stavropoulos setzte ihren 54 Probanden (im Alter von 18 bis 40) Hauben mit Elektroden auf und maß die Gehirnaktivitäten, während sich die Versuchsteilnehmer Bilder aus vier Themengruppen ansehen mussten: Fotos von menschlichen Babys und Bilder von Babys mit künstlich verändertem Kindchenschema (was den "Niedlichkeitspegel" regulieren sollte) sowie Bilder von Tierbabys und ausgewachsenen Tieren.

Nach jeder Themengruppe wurden den Probanden Aussagen vorgespielt, denen sie mit einer Intensität von 1 bis 10 zustimmen sollten. Diese Aussagen drehten sich einerseits um den subjektiv erlebten Niedlichkeitsfaktor, der den Bildern zugeschrieben wurde, sowie darum, wie stark die empfundene Aggression sei. Dazu kamen aber auch Aussagen, die für die Auswertung noch eine besondere Rolle spielen sollten, etwa in der Art von: "Es ist so niedlich, dass ich es nicht aushalte!"

Ergebnisse und Interpretation

Wie die Forscher erwartet hatten, stellten sie bei den Probanden während des Experiments erhöhte Aktivität in den Gehirnregionen fest, die für das Verarbeiten von Emotionen sowie für das gehirneigene positive Belohnungssystem zuständig sind. Die früheren Ergebnisse der Yale-Forscher konnten allerdings nur zur Hälfte bestätigt werden: Zwar sprachen die Probanden auch in Stavropoulos' Versuchsreihe stärker auf Bilder von Tierbabys als auf solche von ausgewachsenen Exemplaren an. Bei den menschlichen Babys hingegen konnten in diesem Versuch keine Unterschiede mehr zwischen "besonders niedlichen" und "weniger niedlichen" Säuglingen festgestellt werden: Möglicherweise ist das Kindchenschema bereits von der Natur derart optimiert, dass es sich im Photoshop nicht mehr verbessern lässt.

Aber woher stammt nun die Aggression, die auch in diesem Experiment festgestellt wurde und die mit der erlebten "Cuteness" stieg? Stavropoulos glaubt, dass es sich dabei um einen Mechanismus handelt, der uns wieder ein bisschen runterkommen lässt, wenn uns das Entzücken übermannt. An dieser Stelle soll die schon genannte "Es ist so niedlich, dass ich es nicht aushalte!"-Aussage ins Spiel kommen.

Denn der eigentliche evolutionäre Sinn der Baby-Optik, die wir als "niedlich" beschreiben, sei es ja, in uns ein Fürsorgeverhalten auszulösen. Dazu seien wir aber nicht mehr in der Lage, wenn uns die Gefühle überwältigen. Die "Cute aggression", so Stavropoulos, sei daher eine begleitende evolutionäre Anpassung, die unseren Gefühlssturm durch einen harmlosen kleinen Akt der Aggression abmildert und uns dadurch wieder handlungsfähig macht. (jdo, 23. 12. 2018)