Das "Haus der Wissenschafter" in Dubna. Die Forschungsstadt machte sich vor allem mit der Entdeckung neuer Elemente einen Namen.

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Bauteil des neuen Teilchenbeschleunigers Nica in Dubna.

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Video des Vereinigten Instituts für Kernforschung (JINR) zum Nica-Projekt.

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Hier entsteht der Teilchenbeschleunigerkomplex Nuclotron-based Ion Collider Facility. Mit der Bauleitung wurde die Strabag beauftragt.

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503 Meter Länge soll der Schwerionencollider haben.

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Wer von Moskau aus nach Dubna möchte, nimmt besser die Bahn. Obwohl nur gut 120 Kilometer nördlich der russischen Hauptstadt gelegen, kann die Fahrt mit dem Auto oder dem Bus in das scheinbar verschlafene, von dichten Wäldern umgebene Städtchen gut und gern vier Stunden dauern – der Moskauer Stauhölle entkommt man nicht leicht.

Dubna gleicht nur auf den ersten Blick einer beliebigen russischen Kleinstadt: Tatsächlich wurde hier, am nördlichen Anfangspunkt des Moskau-Wolga-Kanals, in den 1950er-Jahren das größte Forschungszentrum für Kern- und Teilchenphysik der Sowjetunion aus dem Boden gestampft: Das Vereinigte Institut für Kernforschung (JINR) wurde als sozialistisches Gegengewicht zur Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) gegründet, die Stadt entstand als Teil dieses Vorhabens.

Noch heute ist das JINR die größte derartige Einrichtung Russlands und ein Prestigeprojekt der Regierung: Das Forschungszentrum zählt zu den sechs "Mega-Science-Projekten" des Landes, nach den schwierigen Jahren, die dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgten, fließt wieder Geld in die dortige Spitzenforschung. Derzeit befindet sich in Dubna der Teilchenbeschleunigerkomplex Nica (Nuclotron-based Ion Collider Facility) im Bau, er soll in wenigen Jahren in Betrieb gehen. Zum Teil wird dafür Infrastruktur von Vorgängeranlagen genutzt.

Elementare Entdeckungen

Dubnas Lage erschien der sowjetischen Regierung für einen Kernforschungsstandort ideal: Abgeschieden und dennoch nahe an Moskau gelegen, waren in der Gegend schon in den 1930er-Jahren gewaltige Infrastrukturprojekte realisiert worden: Der Moskau-Wolga-Kanal samt der Iwankowoer Stauanlage bei Dubna war innerhalb weniger Jahre errichtet worden – zum größten Teil von Zwangsarbeitern. Noch heute ragt dort eine 25 Meter hohe Lenin-Statute empor. Ein nicht minder gigantisches Stalin-Monument wurde 1961 geschleift.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der idyllischen Umgebung die heutige Stadt Dubna angelegt, eine Eisenbahnverbindung in die Hauptstadt gebaut und das Kernforschungszentrum errichtet. Der erste Teilchenbeschleuniger wurde 1957 in Betrieb genommen: Das Synchrophasotron mit einem Umfang von 208 Metern war zu dieser Zeit der stärkste Beschleuniger der Welt. Ab den 1960ern erlangte das Vereinigte Institut für Kernforschung durch die Entdeckung neuer Elemente weltweite Bekanntheit: Zwischen 1964 und 2010 konnten in Dubna insgesamt zehn neue Elemente nachgewiesen werden.

Austausch im Kalten Krieg

Schon zu sowjetischen Zeiten war das JINR international ausgerichtet – freilich der Logik des Kalten Kriegs folgend. Zu den Mitgliedern zählten Länder des Warschauer Pakts, unter den rund 7000 Mitarbeitern waren etliche Wissenschafter und Ingenieure aus der sozialistischen Welt vertreten. Westliche Ausländer waren hingegen eine Seltenheit.

Eine der wenigen Ausnahmen war der Wiener Physiker Reinhold Bertlmann, der im Rahmen eines wissenschaftlichen Austauschprogramms 1977 neun Monate lang in Dubna arbeitete. Zu dieser Zeit wurde in den USA erstmals ein Teilchen entdeckt, das ein Beauty-Quark, auch bekannt als Bottom-Quark, enthielt. Bertlmann berechnete in Dubna die Zerfallsraten des Beauty-Quarks und publizierte darüber eine Arbeit. "Ich bin dort sehr freundlich aufgenommen worden. Das Niveau und die Arbeitsbedingungen waren mit denen am Cern durchaus vergleichbar, wobei man sich in Dubna immer schon stärker mit Kernphysik beschäftigt hat", erinnert sich Bertlmann im Gespräch mit dem STANDARD.

Dass er damals überhaupt als Gastwissenschafter in der Abteilung für theoretische Physik des Forschungszentrums arbeiten konnte, sei sicherlich der Neutralität Österreichs geschuldet gewesen. "Soweit ich mich erinnere, war ich der einzige westliche Ausländer im ganzen Forschungszentrum." Bertlmann erinnert sich auch an die enormen Sicherheitsvorkehrungen, die am JINR herrschten – und an die ständige Präsenz des KGB.

Zurück zum Urknall

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geriet auch das JINR ins Wanken – von den einst 7000 Mitarbeitern wurden in den 1990ern etliche entlassen, das Budget wurde drastisch gekürzt. Längst geht es aber wieder aufwärts. Wer heute auf dem Areal der Forschungseinrichtung ankommt, fühlt sich kurz dennoch an vergangene Zeiten erinnert: Das Gelände ist Sperrgebiet, am Stacheldrahtzaun patrouillieren Soldaten mit Kalaschnikows.

Hat man den Checkpoint aber hinter sich gelassen, dominiert eine Großbaustelle den Blick – beflaggt mit einem österreichischen Firmenlogo. Hier entsteht unter der Bauleitung der Strabag eine neue Forschungsanlage, deren Herzstück der Schwerionencollider Nica ist. Im Vergleich zum Large Hadron Collider am Cern, dessen ringförmiger Tunnel 27 Kilometer misst, fällt Nica deutlich kleiner aus: Der Ringbeschleuniger soll eine Länge von 503 Metern haben. Das Design ergebe sich aus der speziellen Aufgabenstellung, sagte der JINR-Physiker Dmitri Driablow bei einem Besuch der Anlage, der von der russischen Universität für Nuklearforschung (MEPhI) organisiert wurde.

Quark-Gluon-Plasma

Der neue Teilchenbeschleuniger in Dubna soll dazu dienen, die Eigenschaften des Universums in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall zu erforschen. Durch die Beschleunigung von schweren Ionen soll ein spezieller Materiezustand erzeugt werden, das sogenannte Quark-Gluon-Plasma. Man nimmt an, dass das Universum in den ersten Augenblicken nach dem Urknall diesen Zustand, in dem sich die subatomaren Teilchen Quarks und Gluonen frei bewegen können, durchlief. 2013 wurde mit dem Bau des Colliders begonnen, 2023 soll er in Betrieb gehen.

Aber auch in anderer Hinsicht wird von Dubna aus ins Universum geblickt: In der Abteilung für Radiobiologie wird neben Krebsforschung auch zu medizinischen Problemen der Raumfahrt geforscht. Eine Gruppe untersucht etwa, wie sich die kosmische Strahlung bei langen Weltraumflügen auf das Gehirn auswirkt.

Internationale Kooperation

Die Ergebnisse im Tierversuch sind ernüchternd, so Driablow: Die Strahlendosis bei einem Flug zum Mars würde ausreichen, um im Hippocampus irreparable Schäden zu verursachen – mit Folgen für das Lang- wie auch das Kurzzeitgedächtnis. "Es ist nicht nur die steigende Krebsgefahr durch die Strahlung ein Problem. Unsere Experimente zeigen, dass Mars-Reisende einem hohen Risiko für Vergesslichkeit und Verhaltensänderungen ausgesetzt wären", berichtet Driablow.

Für viele junge russische Physiker und Ingenieure ist das Forschungszentrum in Dubna ein Wunschziel: Die Arbeitsbedingungen sind sehr gut, und das Einkommen ist deutlich höher als in anderen wissenschaftlichen Institutionen im Land, sagt ein junger Wissenschafter zum STANDARD, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Inzwischen ist das JINR auch beinahe wieder auf seine sowjetische Größe angewachsen: 5500 Beschäftigte zählt das Forschungszentrum heute. Neben 18 Mitgliedsstaaten, darunter auch EU-Länder wie Tschechien oder Rumänien, gibt es Kooperationen mit 800 wissenschaftlichen Institutionen in aller Welt. (David Rennert, 16.12.2018)