Wohin der in Marrakesch verabschiedete Migrationspakt führt, hängt von den Staaten ab. Zumindest die Figuren auf dem Eingang zum Konferenzgelände gehen schon einmal aufeinander zu.

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Joanne Liu will sich nicht einschüchtern lassen.

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STANDARD: Sie sind hier in Marrakesch, wo der UN-Migrationspakt angenommen wurde. Welche Erwartungen haben Sie?

Joanne Liu: Für uns ist es wichtig, dass der Pakt die Menschen in den Mittelpunkt stellt, dass er klarstellt, dass Migranten nicht ihre Rechte verlieren, wenn sie eine Staatsgrenze überschreiten. Dass Migranten einfach keine Verbrecher sind. Dass sie, wenn sie aus welchen Gründen auch immer aufgehalten werden, mit Würde behandelt werden. Der andere für uns wichtige Punkt im Pakt ist – und ich fand es erstaunlich, dass man das heutzutage noch einmal festhalten muss –, dass es nicht illegal ist, Menschenleben zu retten. Ich hätte nie gedacht, dass einmal der Tag kommt, an dem man mir erzählt, dass man das im Mittelmeer nicht mehr darf.

STANDARD: Wie sollen die Länder dazu gebracht werden, den Pakt umzusetzen?

Liu: Man muss ihnen erklären, dass geordnete Migration für die Migranten, aber am Ende des Tages auch für die Länder gut ist. Ich glaube, kein Land dieser Welt will Menschen dorthin zurückschicken, wo sie Folter und Vergewaltigung ausgesetzt sind.

STANDARD: Erst vor wenigen Tagen hat Ihre Organisation verkündet, den Einsatz im Mittelmeer mit dem Schiff Aquarius einzustellen. Haben Sie schon andere Pläne?

Liu: Wir haben aktuell kein Rettungsschiff im Mittelmeer, das ist eine verfahrene Situation. Jeder einzelne Schritt in den vergangenen zwei Jahren, den wir unternommen haben, um unseren Rettungseinsatz durchzuführen, war schwierig. Es ging um administrative und rechtliche Probleme, Einschüchterung, Schmutzkampagnen. Die Entscheidung, den Einsatz einzustellen, ist noch sehr frisch. Wir werden uns zusammensetzen und die Situation analysieren, uns ansehen, wie die Rahmenbedingungen in Zukunft sein werden. Dann werden wir sehen.

STANDARD: Wenn Sie von Rahmenbedingungen sprechen, müssen wir über die politische Situation reden. Die Regierungen, die nationalistisch vorgehen, werden immer mehr. Ihre Arbeit dürfte also eher schwerer als leichter werden.

Liu: Das alles hat einen Einfluss, aber wir müssen zurückschlagen. Wir werden nicht aufgeben, der Welt zu zeigen, wie die Situation ist, was sich im Mittelmeer ereignet. Es gibt 277 Millionen Migranten weltweit, mit unterschiedlichsten Hintergründen.

Ich bin eine davon, als Kanadierin mit chinesischen Wurzeln, die in der Schweiz arbeitet. Aber es gibt auch die, die vor Hunger oder Kriegen fliehen. Für mich ist wichtig, dass 165 Staaten das Grundlegendste akzeptieren: dass es Migration gibt. Und dabei ist eines zu beachten: Keine Mauer kann hoch genug sein, um einen Migranten aufzuhalten, wenn er daheim keine Zukunft hat. Der Wille von Eltern, ihren Kindern eine Zukunft zu ermöglichen, ist enorm stark, unabhängig davon, woher man kommt.

STANDARD: Wie genau wollen Sie zurückschlagen?

Liu: Indem wir weiterarbeiten und das machen, was wir machen müssen. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Deshalb sind wir hier in Marrakesch. Wir haben bereits in den vergangenen Jahren einen schwierigen Kampf geführt. Ebola, der Luftangriff auf unser Krankenhaus im afghanischen Kundus, kaum jemand wollte das beachten. Irgendwann kam aber der Punkt, an dem es die Aufmerksamkeit dafür gab. Migration ist jetzt die nächste große Aufgabe. (Kim Son Hoang aus Marrakesch, 12.12.2018)