Thomas Jaeger ist Professor für Europarecht an der Universität Wien.

Foto: Universität Wien
Foto: unsplash/rawpixel

Was macht ein Höchstgericht eigentlich aus, wie steht es um die Integration des EuGH in nationale Rechtssysteme, und warum ist es auch in Ordnung, wenn manchmal das EU-Recht seine eigenen Regeln nicht einhält? Diese und andere Themen wie die Zwangspensionierungen von Juristen in Polen waren unlängst Diskussionspunkte auf DER STANDARD. Thomas Jaeger, Professor für Europarecht, hat für die Semesterfrage der Universität Wien darüber nachgedacht, was Europa heute eint – seine Antwort stützt sich auf einen rechtlichen Aspekt. Zahlreiche Reaktionen der User fanden sich im Forum unter seinem Artikel "Hält ein mutiger EU-Gerichtshof die Europäische Union zusammen?". Auf die relevantesten Beiträge antwortet er in diesem Artikel.

Thomas Jaeger: Ein Höchstgericht ist wie der Schiedsrichter auf dem Fußballfeld, die Politik stellt die Spieler. Der Schiedsrichter macht sich mit jeder seiner Entscheidungen zwangsläufig bei der einen oder anderen Seite unbeliebt. Deren Unmut wird in den Vorwurf der Parteilichkeit oder der Fehlentscheidung gepackt. Fakt ist aber: Das Spiel funktioniert erstens ohne Schiedsrichter nicht, und zweitens wird der Schiedsrichter nicht dadurch selbst zum Spieler, indem er ordnend in das Spiel eingreift.

All dies lässt sich 1:1 auf die Funktion der Höchstgerichte, beispielsweise des EuGH, umlegen: Da sie Grundsatzfragen der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Staatsordnung entscheiden, trifft sie fast reflexartig der Vorwurf, sie agierten politisch. Was sie aber in Wahrheit tun, ist, in Politik, Gesetzgebung und Verwaltung ordnend einzuwirken, indem alle Akteure an die für sie geltenden Regeln der Verfassung rückgebunden werden.

Die Judikative legt das Recht nur aus, sie schafft es nicht selbst. Im Recht kann und soll nicht jeder Einzelfall geregelt werden, daher haben die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung des Rechts einen Ermessensspielraum. Dieses richterliche Ermessen auszuüben und auszufüllen ist Kern der den Gerichten im Staatsgefüge zugewiesenen Aufgaben. Wie weit das Ermessen geht, liegt in der Hand des Gesetzgebers. Denn: Gegen klare Anordnungen des geltenden Rechts judiziert kein Gericht, auch nicht der EuGH – ebenso wie der Schiedsrichter beim Fußball nicht gegen die Regeln entscheidet, sondern stets in Anwendung der Regeln.

Thomas Jaeger: Papier ist geduldig, sagt das Sprichwort. Der Gerichtshof verfügt über keine eigene Kavallerie. Anders gesagt: Was tun, wenn Politik, Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten dem EuGH den Gehorsam verweigern würden?

EuGH-Urteile sind zwar in den Mitgliedsstaaten unmittelbar exekutierbar. Um sie zu exekutieren, ist aber die Mitwirkung der nationalen Behörden vor Ort erforderlich. Dasselbe gilt für die Beachtung von EuGH-Judikatur durch die nationalen Gerichte: Diese sind dazu zwar rechtlich verpflichtet. Wenn sie es aber nicht tun, gibt es keine Nationalgarde, die einmarschiert, sondern wieder nur rechtliche Werkzeuge, wie damit umzugehen ist. Solange die Rechtsgemeinschaft funktioniert, greifen diese Werkzeuge. Funktioniert sie eines Tages aber nicht mehr, gehen sie ins Leere.

Der Gerichtshof agiert also nicht alleine auf der grünen Wiese oder im Elfenbeinturm: Er ist Teil eines Rechtsschutzsystems, zu dem auch die nationalen Gerichte und der Dialog mit diesen gehören. Der EuGH ist also darauf angewiesen, dass ihm jemand zuhört und glaubt. Deshalb ist seine Judikatur in meinen Augen mutig: Die europäische Integration ist heute kein Selbstläufer mehr, daher auch nicht der Rechtsgehorsam gegenüber dem EuGH. Baut er mit seiner Judikatur Druck auf, so kann der Kessel am Ende auch explodieren. Im Fall einer offenen Abwendung der Politik vom EuGH und dessen Legitimität wäre das vielbeschworene Ende der EU tatsächlich nahe. Der EuGH verbleibt nicht in seiner Komfortzone und fährt keinen Kuschelkurs. Das ist mutig.

Thomas Jaeger: Tatsächlich werden die Regeln nicht immer eingehalten. Die im Posting zitierten Beispiele WWU/Euro und Dublin-Asylsystem sind tatsächlich richtig. Auch Schengen wäre hier zu nennen. In einzelnen Fällen wurden diese Regimes zumindest sehr stark gebeugt. Dass Rumänien und Bulgarien ignoriert werden, würde ich dagegen nicht sagen. Eher vielleicht Ungarn, wo es das Europäische Parlament gebraucht hat, um aktiv zu werden.

Für die Überwachung der Einhaltung des EU-Rechts ist zunächst die Kommission verantwortlich. Erst dann, wenn ihr Handeln zu Streitigkeiten führt, tritt der EuGH auf den Plan. Tatsächlich zeigt sich aber immer wieder, dass die Kommission gegenüber politischen Zurufen, gerade aus großen Mitgliedsstaaten, nicht ganz taub sein dürfte. Anders gesagt: Wenn der politische Druck auf die Kommission entsprechend stark ist, zeigt die Geschichte, dass Lösungen für Sonderwünsche gesucht und gefunden werden.

Ist das unerhört, rechtswidrig, anzuprangern, oder zeigt es, wie korrupt das politische System der EU ist? Nein. Die Kommission ist im EU-Recht ebenfalls als politischer Akteur angelegt. Sie agiert im Zusammenwirken mit den Mitgliedsstaaten, nicht gegen diese. Sie verfügt über ein gewisses Ermessen, ob und wie Rechtsverletzungen im Einzelfall aufgegriffen werden. Insofern unterscheidet sie sich nicht vom Polizisten auf der Straße.

Kurzum: Die Beispiele sind richtig. Mit dem EuGH haben sie aber nichts zu tun. Denn: Wo kein Kläger, da bekanntlich auch kein Richter.

Thomas Jaeger: Revolutionär ist in meinem Artikel nicht im staatstheoretischen Sinn gebraucht, also nicht als Staatsstreich oder Verfassungsbruch, sondern im sprachüblichen Sinn von bahnbrechend, fortschrittlich. Der EuGH bricht den Werten, auf denen die Union gründet, die Bahn für ihre tatsächliche Einhaltung: Bislang gab es hier nur das (politische) Stimmrechtsentzugsverfahren, nunmehr gibt es auch einen Rechtsweg zum EuGH.

Thomas Jaeger: Gerichte wahren Freiheit, nämlich insbesondere jene des Einzelnen gegenüber Eingriffen des Staates. Das im Artikel verwendete Beispiel Polen belegt dies gerade: Eine neue Regierung greift in die Rechtsposition von Organen und Personen ein, die ihr missliebig sind. Das Gericht, hier der EuGH, wahrt die Rechte und damit die Freiheit der Betroffenen gegenüber Begehrlichkeiten der Politik.

Der Vorwurf, der EuGH sei Ausdruck einer autokratischen Fremdherrschaft, stand etwa ganz massiv hinter den Austrittsbestrebungen der Brexiteers: "Taking back control" und "Ending the jurisdiction of the Court of Justice in the UK" waren prominente Parolen. Make the UK great again und Freiheit in Krähwinkel, wäre ich versucht, polemisch anzufügen. Dahinter steckt letztlich eine Frage der Weltanschauung: Ist "Brüssel" "fremd"? Und wer sind "wir"? Gehört die EU heute zu Österreich und umgekehrt?

Aus rechtlicher Sicht ist ganz nüchtern zu sagen: Will man, wie die Briten, aus der EU austreten, ist die Zuständigkeit des EuGH beendet. Bis dahin ist er integraler Bestandteil unseres österreichischen Rechtssystems und als solcher nicht Fremdherrschaft, sondern Eigenherrschaft. Denn wer ist denn "die EU": Organe, Akteure, Verfahren, Rechtsregeln, denen Österreicher angehören und in denen Österreich mitwirkt und mitbestimmt.

Thomas Jaeger: Die Gefahr einseitiger Einflussnahme auf den EuGH im Weg der Personalpolitik ist beim EuGH viel geringer als etwa beim Supreme Court oder etwa auch beim österreichischen Verfassungsgerichtshof. Es gibt nämlich mehrere Elemente, die beim EuGH Meinungspluralität sicherstellen.

Erstens erfolgt die Ernennung, anders als beim Supreme Court und beim Verfassungsgerichtshof, auf Zeit – für sechs Jahre. Zweitens wird alle drei Jahre ein Teil der Richterstellen neu besetzt, sodass regelmäßig eine Durchmischung stattfindet und gleichzeitig Kontinuität gewahrt bleibt. Drittens kommt jedem Mitgliedsstaat und jeder Regierung nur das Vorschlagsrecht für einen EuGH-Richter zu, es gibt aber (ohne britischen Richter künftig) 27. Viertens werden die vorgeschlagenen Kandidaten in Bezug auf ihre Eignung von einem unabhängigen, nichtpolitischen Fachausschuss geprüft und bewertet, bevor sie ernannt werden können. Fünftens entscheidet der EuGH wichtige Rechtsfragen im Regelfall in der Zusammensetzung der sogenannten Großen Kammer, der fünfzehn Richter angehören. Dies beschränkt den Einfluss einzelner Richter auf Grundsatzentscheidungen. (Thomas Jaeger, 13.12.2018)