Eine Idylle. Doch war da nicht noch etwas? Gab's da nicht so ein berüchtigtes Heim für schwererziehbare Kinder? Oder war's auch nur eine Sonderschule?
Foto: David Wallinger

Rettung aus höchster Not

Wie es die Legende will, hatte sich Kaiser Maximilian I. im Jahre 1484 bei der Gämsenjagd so hoch in die schroffe, ja überhängende Martinswand nahe Innsbruck verstiegen, dass er am Ende weder vor noch zurück wusste. Verzweifelt blickte er auf sein Jagdschloss im Tal unter ihm, von wo ihm ein Pfarrer per Handzeichen die Letzte Ölung erteilte. Eine Schar Untertanen hatte sich dort unten versammelt und sah zu ihrem Kaiser hinauf, seine Gebete sanken auf sie hinab und noch mehr stiegen von unten empor. Nach tagelangem Ausharren hatte sich Maximilian schließlich bereits in den unausweichlichen Tod gefügt, doch da nahte überraschend die Rettung in Gestalt eines einfachen Bauernburschen, der ihm den sicheren Abstieg wies. Als der Kaiser unter dem Jubel der Menge im Tal angelangt war, verschwand der junge Mann im Gedränge.

Es musste ein Engel gewesen sein, der den frommen Herrscher für seine Gottesfurcht mit dem Leben belohnt hatte. Aus Dankbarkeit ließ Maximilian wenige Jahre später an ebenjener Stelle, hoch über dem Martinsbühel, eine Grotte in den senkrechten Felsen schlagen und ein großes Gedenkkreuz anbringen. Auch ein steinernes Denkmal an der Bundesstraße von Innsbruck nach Zirl erinnert an die dramatische Episode samt glücklichem Ausgang.

Zur Maximiliansgrotte führt heute ein gesicherter Steig durch die Martinswand, für den der Wanderer weder Kletterausrüstung noch Engel benötigt. Von dort oben lässt man den Blick über Unter- und Oberinntal schweifen, senkt ihn vielleicht kurz auf den Martinsbühel hinab, wo Maximilians Jagdschloss heute noch steht: St. Martinsberg, der Palas einer mittelalterlichen Burganlage, ein mehrstöckiges Gebäude mit dicken Steinmauern und kleinen Fenstern. Seine Kellergewölbe sind in einen Felsen gehauen, der an einer Engstelle zwischen Inn und Martinswand gut dreißig Meter hoch aufragt. Eine Insel in der Au. Vielleicht ist der Block in Urzeiten aus der Martinswand herausgebrochen, was deren Überhang erklären würde. Im Burghof steht eine gotische Kapelle, angeblich die älteste Kirche Nordtirols. Ringsum ein paar neuere Gebäude ohne kunsthistorischen Wert, nach deren Zweck kein Wanderer fragt. Und ein Bauernhof inmitten sanfter Wiesen und Felder, die ostwärts in antiken Steinterrassen zum Inn hinunter abfallen. Eine Idylle. Doch war da nicht noch etwas? Gab's da nicht so ein berüchtigtes Heim für schwererziehbare Kinder? Oder war's auch nur eine Sonderschule? Oder beides? Sind die noch in Betrieb? Genaues weiß der Wanderer nicht und genießt lieber die spektakuläre Aussicht.

Wo die ganz schlimmen Kinder waren

Mit Heidi F., einer ehemaligen Heiminsassin, begebe ich mich in die jüngere Vergangenheit und zugleich in ein Paralleluniversum, abgeschottet von der Außenwelt. Die Galaxie heißt "christliches Fürsorgewesen" und ist ein angestammter Wirtschaftszweig der katholischen Kirche. Ihr Planet Martinsbühel, einst von Außerirdischen bewohnt, ist mittlerweile erloschen. Ich bin in meinem Leben, ohne ihn wahrzunehmen, zahllose Male daran vorbeigefahren, ein paar Kilometer westlich von Innsbruck, als Skifahrerin, Langläuferin, Ausflüglerin, Reisende oder Heimkehrende, erst auf der Bundesstraße auf dem Rücksitz im Auto meiner Eltern, später auf der Autobahn im eigenen Auto, bald mit meinen Kindern auf dem Rücksitz. Als ich klein war, wurde mir gesagt, dort seien die "ganz schlimmen Kinder" eingesperrt. In meiner Erinnerung bildete der seltsame Hügel eine Insel im Inn.

So eine Art Tiroler Mont-Saint-Michel. Heute bin ich ganz erstaunt, dass das ehemalige Mädchenheim der Benediktinerinnen von 1947 bis 2008 bestand. Geografisch wäre es all die Zeit zugänglich gewesen, doch zur Zeit ihres Bestehens war die Mädchenburg Sperrgebiet. "Klein-Alcatraz" nannten sie ihre Insassinnen.

Erstmalig habe ich nun diese nahe, fremde, kalte Insel betreten, von der aus betrachtet alles mir bisher Vertraute schlagartig zur "Außenwelt" wird. Zwar höre ich hier noch das gewohnte Verkehrsrauschen von Autobahn und Bundesstraße, Inntal- und Karwendelbahn. Ich sehe den Inn, die Martinswand mit ihrer Grotte, über uns baumeln angeseilte Kletterschüler mit Karabinern und Helm, doch plötzlich scheint mir das alles unendlich weit entfernt. Für die Heimkinder war die Außenwelt unerreichbar, obwohl sie ihnen täglich vor Augen stand. Sie lebten in einer Blase, gespeist aus einer dunklen Matrix mit dem Ziel, den Mädchen das Böse auszutreiben, es aus ihnen herauszubeten, herauszuschinden, herauszuprügeln, herauszuhöhnen.

Heidi und ich haben uns zum Lokalaugenschein auf den Martinsbühel begeben, den Schauplatz des Verbrechens. Begangen an ihr und hunderten anderen Mädchen und Frauen aus Tirol und anderen Bundesländern. Für Heidi geht es um acht Jahre ihres Lebens, in Summe geht es um tausende Jahre ungezählter menschlicher Leben. Um jegliche Form der Gewalt, der Ausbeutung, der Vernachlässigung und der Demütigung. Gemäß UN-Definition geht es schlicht um Folter. Aber auch "nur" um Betrug und banalen Diebstahl. Heidi hat es sich zum Ziel gesetzt, ihre ehemaligen Leidensgenossinnen aufzuspüren und zu vernetzen.

Im Jahr 2004 hat sie Strafanzeige wegen Kindesmisshandlung erstattet, dafür 126 mitinhaftierte Zeuginnen benannt, doch die Erhebungen wurden wegen Todes oder Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten, wegen Verjährung und mangels Beweisbarkeit noch im selben Jahr eingestellt: Die Staatsanwaltschaft hatte keinen weiteren Grund zur Verfolgung gefunden. Zu einem Verfahren kam es nie. Heidi, gesund geboren, hat sich ihre 70-prozentige Behinderung nicht selbst zugefügt. Was wurde ihr angetan?

Da blühen die Blumen besonders schön

Wir stehen auf dem Vorplatz des Benediktinerinnen-Mädchenheims Martinsbühel. Erdrückend hängt die Martinswand über uns, drohend ragt Kaiser Maximilians Steinschloss vor uns auf. Hohes graues Gemäuer. Dort, im Haupthaus der Anlage, der kirchlichen Geschlechterordnung entsprechend, residierten im Obergeschoß die seelsorgenden Patres und Fratres, für deren leibliches Wohl das weibliche Gesinde sorgte. Zu ebener Erde befand sich das Versorgungszentrum: Großküche, Vorratsräume und Waschküche, wo die Mädchen wie Erwachsene arbeiten mussten: geschlachtetes Vieh zerteilen, Kartoffeln schälen, Gemüse und Obst verarbeiten, Essen kochen, Speisen servieren, Geschirr waschen, Herd und Inventar putzen, Böden schrubben. Dazu kam die Wäsche für rund 200 Personen, Heimkinder und Ordensleute.

Es brauchte im Mädchenheim weder Küchen-, Reinigungs- noch Pflegepersonal. Jedenfalls kein bezahltes. Denn für alle Arbeiten, selbst die schwersten, waren die Mädchen zuständig, die schwer erziehbaren, in der Küche und auf den Feldern, auch als Pflegerinnen der Behinderten und als Betreuerinnen der kleineren Kinder. Den geistlichen Schwestern oblag nur das Bewachen, Bestrafen und Beten. Mithilfe des klostereigenen Bauernhofs konnte der Orden das Heim als Selbstversorgungsbetrieb führen, wobei die Benediktinerinnen aus erzieherischen Gründen eine Rückkehr in vorindustrielle Zeiten anstrebten. Als Scheuerpulver wurde Sand vom Inn in Kübeln herbeigeschleppt. Kraut wurde geraffelt und in Bottichen zum Säuern angesetzt, Obst und Gemüse händisch zerkleinert, Klopapier mit Messern aus alten Zeitungen zurechtgeschnitten.

Die Jauchegrube musste von den Mädchen mit einer langstieligen Kelle ausgeschöpft und ihr Inhalt mit Schubkarren auf die Felder verteilt werden. Im Gegenzug wurden trockene Kuhfladen von den Wiesen gekratzt und als Brennstoff verwendet. Obwohl es eine Waschmaschine gab, mussten die Mädchen die Weißwäsche mit bloßen Händen rubbeln, waschen, spülen, wringen und aufhängen, bis die Haut aufquoll und platzte.

Aus zerschlissenen Bettlaken wurden Monatsbinden hergestellt, indem die Mädchen Stoffbahnen in mehreren Schichten übereinandernähten. Auch diese Binden mussten sie händisch waschen und für alle sichtbar zum Bleichen an die Leine hängen. Das Blutwasser wurde als Gartendünger genützt, "denn da blühen die Blumen besonders schön". Nichts durfte verkommen. Bis auf die Kinder.

Wäschenummer 169

Wir wenden uns ab vom Steinpalast mit seinen Küchen, Kartoffelkellern und Kemenaten und überqueren den Kirchplatz der Burganlage, umgrenzt von langgestreckten zweistöckigen Schlaf-, Wohn- und Verwaltungsblocks. Seit 2008 stehen sie leer und verfallen, mit ihrer breiten Eingangstreppe samt nachträglich angebrachter Rollstuhlrampe. Mit Hofer, Haspinger, Tiroler Adler und goldenen Heiligenbildern an der Fassade. Mit dem kreidenen C-M-B über den Eingängen. Hier waren die Büros der Leitschwestern, die Speisesäle für die Kinder, ein paar Toiletten, eine kleine Sanitäranlage und vor allem viele Schlafsäle untergebracht. Pro Schlafsaal über dreißig Betten, in Viererreihen, Kopf an Fuß, Fuß an Kopf, ohne Zwischenraum, ohne Ablage oder gar Nachtkästchen für die Kinder. Die brauchten sie nicht, denn jegliches Privateigentum, ob Kuscheltiere, andere Mitbringsel oder private Kleidungsstücke, nahm man ihnen bei der Einlieferung ab. Die Kleidung wurde von den Schwestern zugeteilt, ob sie passte oder nicht. Heidi lief unter der Wäschenummer 169. Der Vorname wurde ihr aberkannt, der Geburtstag (als "heidnisch") gestrichen. Privatsphäre war ein Fremdwort.

Die Überwachung funktionierte lückenlos. In jedem Schlafsaal übernachtete eine Nonne in ihrem Alkoven hinter einem Bretterverschlag mit Vorhang. Vor dem Einschlafen patrouillierten zwei Nonnen durch die Reihen, um zu überprüfen, ob alle brav das halbstündige Nachtgebet mitsprachen. Schlief ein Kind dabei ein, wurde es mit Stößen oder dem Schlüsselbund geweckt. Am wichtigsten: Hände auf die Bettdecke. Zur Masturbations-Prophylaxe wurden die Finger der Verdächtigen mit Tinte markiert und morgens die Geschlechtsteile nach Farbspuren untersucht. Dabei gehörten vaginale "Kontrollbohrungen" mit der Hand oder dem Stiel der Sanitärsaugpumpe zur Routine. Die Decken stammten noch aus amerikanischen Militärbeständen, die Matratzen waren alt, schadhaft und uringetränkt, die hygienischen Zustände insgesamt gesundheitsgefährdend. Ein einziges Pinselchen zur Mundfäulebehandlung für alle Kinder. Zahnpasta ein Luxus. In den acht Jahren ihrer Verwahrung durfte Heidi dreimal die Zahnbürste wechseln. Ihr Gebiss ist heute ruiniert. Duschen mit warmem Wasser war als körperfreundlich verpönt, dafür gab es eiskalte Güsse als Form der Bestrafung. Baden durften die Mädchen nur alle vierzehn Tage (trotz körperlicher Schwerarbeit), in wadenhohem, lauwarmem Wasser, sieben Kinder pro Wanne. Die Haarwäsche, noch seltener, erfolgte in Bottichen im Freien.

"Du kannst dir nicht vorstellen, wie wir gestunken haben", sagt Heidi. "Alles hat gestunken. Nach Schweiß, Dreck, Kotze, Urin, Kot. Vor allem wir selber stanken. Wir hatten alles: Zahnfäule, Mundfäule, Krätze, Pilze, Würmer, Läuse. Das Jucken am ganzen Körper, vor allem im Genitalbereich, war unerträglich. Doch sobald wir uns kratzten, setzte es Schläge, weil wir uns nicht berühren durften. Nicht einmal zum Waschen. Das besorgten die Nonnen. Wir mussten uns in einer Reihe anstellen und warten, bis sie uns abrieben. Oft mit der Nagelbürste, bis zum Wundsein." Dabei trieben die Nonnen gerne ihre Späße mit den Brüsten der Mädchen. Weibskörper, Teufelszeug, aber lustig war's doch.

Was geschah mit Elli P.?

Ich irre mit Heidi durch die vielen Säle, treppauf, treppab. Heute stehen hier keine Betten mehr, doch sonst ist alles wie damals. Abgestandener Geruch, schäbige Plastikböden, kalte Heizkörper, die schon damals nicht aufgedreht waren, schlecht schließende Fenster, oft vergittert, pro Saal ein kleines Wandregal für über dreißig Kinder, der Verschlag für die Aufsichtsnonne, ein Kreuzabdruck an der Wand. Nur stiller ist es heute, gespenstisch still. Wobei es auch damals nicht laut zuging: Für die Mädchen bestand generelle Schweigepflicht bis auf knapp bemessene Sprechzeiten. Nur die Behinderten schrien und röchelten oft die ganze Nacht, schlugen mit dem Kopf gegen das Bettgestell, was auch bei "gesunden" Kindern vorkam (Hospitalismus).

Der Morgenappell der Nonnen "Gelobt sei Jesus Christus" und die Antwort "In Ewigkeit Amen", im Chor zurückgebrüllt, geistern noch durch die Hallen. Ein Mädchen mit Down-Syndrom, erzählt mir Heidi in einem der Säle, sei hier mit zwölf Jahren an Unterleibskrebs qualvoll zugrunde gegangen. Elli habe nächtelang vor Schmerzen geschrien, keiner habe ihr geholfen, kein Arzt sei gerufen worden, keine Schmerzlinderung verabreicht. Eines Tages war sie, in Heidis Erinnerung "ein sehr liebes Mädchen", dann weg, ihr Bett leer. "Die Schwestern sagten knapp, sie sei gestorben." Weder das Kind noch seine Familie wurden bis heute ausgeforscht (Name und Foto liegen vor, Geburts- und Sterbejahr geschätzt, Anm.). In ihrer Strafanzeige hat Heidi die unterlassene Hilfeleistung zu Protokoll gegeben. Ohne Ergebnis. Opfer unbekannt.

Das Heim beherbergte körperlich, psychisch und geistig behinderte Kinder, aber auch "gesunde", die jedoch als "schwer erziehbar" und "sittlich verwahrlost" galten. Trotz der Durchmischung konnte von einem integrativen Ansatz mangels Fachpersonal und Therapiekonzept keine Rede sein. Die Pflege der Behinderten blieb den restlichen Kindern überlassen. Waschen, baden, an- und ausziehen, füttern, ins Bett und auf die Toilette heben, Nachtwache halten. Die Unterstützung seitens der Schwestern bestand darin, dass sie unruhige und aggressive Kinder ans Bett fesselten oder in eine Zwangsjacke steckten. Auch nachts mussten "gesunde" Kinder auf ihre kranken und behinderten Leidensgenossinnen schauen. Nur eine Quarantänestation, die Hepatitis-Abteilung im Untergeschoß des Schlaftrakts, blieb abgeschottet. Zum Schicksal dieser Patientinnen existieren bis heute kaum Zeugenaussagen. Keine Dokumentation über Infektionswege, Krankheitsverläufe oder Todesfälle.

Nackt in der Kälte

Während sie die medizinische Betreuung völlig vernachlässigten, sorgten die Ordensschwestern umso eifriger für das kindliche Seelenwohl. Die rituellen Methoden, den Mädchen das Böse auszutreiben, waren so kreativ wie grausam. Prackerschläge aufs nackte Gesäß. Stundenlanges Kruzifixhalten, im Stehen oder Knien. Nächtliches Gangstehen. Knien vor dem Kreuz. Neben dem Bett am Boden liegen, Zehen senkrecht nach oben. Die Hände eine Stunde und länger zum Gebet auf dem Rücken gefaltet. Knien, mit einem Besenstiel im Mund, damit der Kopf nicht nach vorne sackte. Verbrühen durch Eintauchen der Hände in siedendes Wasser. Erbrochenes aufessen. Den Kopf (sinnigerweise bei Wurmbefall) in die Kloschüssel tauchen.

Nackt in der Kälte stehen, die Bettnässerinnen ins nasse Laken gehüllt. Langes Kaltduschen, öffentliches Zurschaustellen der Unterhosen mit Menstruationsblut, Kot- oder Tintenspuren. Essens- und Schlafentzug, Besuchs- und Briefverbot, Tritte und Schläge. Ständige Schmähungen. Drohungen mit Hölle und Fegefeuer. Der Teufel, den es auszutreiben galt, wohnte nicht erst in den Kindern selber, sondern bereits in ihren Müttern. "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm", musste Heidi zahllose Male wiederholen. Dazu ein Faustschlag gegen den Hinterkopf. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Bumm. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Bumm. Der Apfel ... bumm. Der ...

Das mag nach Sekte klingen. Doch es waren nicht nur religiöse Eiferer und Sadisten, denen das Kind Heidi ausgeliefert war. Die Häftlinge der Mädchenburg Martinsbühel aßen bis ins dritte Jahrtausend hinein neben zerkratztem amerikanischem Plastikgeschirr auch von Tellern, auf deren Rückseite das Hakenkreuz-Logo prangte. Die perfekte Metapher. Die Teufelsaustreibung fügt sich bei aller religiösen Verbrämung nahtlos ins ideologische Gesamtbild der Ersten und Zweiten Republik mit Schwerpunkt Drittes Reich. Traditionsgemäß hatte 1977 die Gerichtspsychiaterin Maria Novak-Vogl ihrer kleinen Patientin Heidi schlechte Erbanlagen und somit eine ungünstige Prognose bescheinigt. Die Abstammung ihrer Mutter von "Fahrenden" dürfte, trotz materiellen Wohlstands, dazu beigetragen haben. Die behördlich verfügte Kontaktsperre konnte in all den Jahren der Kindsverwahrung nur achtmal unterlaufen werden, indem sich Heidis Mutter unbeirrt, wenn auch nicht ungehindert, Zutritt zu ihrer Tochter verschaffte. Kleine Perfidie am Rande: Das Besuchsverbot lastete man dem Kind wegen seiner "Aufmüpfigkeit" an.

Falltür zum finstersten aller Keller

Das Mädchenheim der Benediktinerinnen in Martinsbühel zwischen der Bundesstraße 171 und der Autobahn A 12 steht auf einem hohen Felsen und ist weitläufig unterkellert. Von jedem Gebäude führen mehrere Zugänge in die unterirdischen Steingewölbe. In der NS-Zeit, als der Benediktinerorden vorübergehend enteignet war, hielt man dort Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter für das Messerschmitt-Werk im benachbarten Kematen.

In den Keller wurden Kinder gesperrt, die sich nach Meinung der Nonnen nicht wohlverhalten hatten.
Fotos: Robert Melzer

Nach der Rückgabe an den Orden wurden in den Kellern jene Mädchen eingesperrt, die sich nach Meinung der Nonnen nicht wohlverhalten hatten. Vor dem Büro der Schwester Pia befindet sich eine Falltür im Boden, die zum finstersten aller Keller führt. War eines der schlimmen Kinder besonders schlimm, landete es dort zu seiner Besserung. Falltür auf, die Hühnerleiter hinab, Falltür zu. Stundenlang, auch tagelang musste die Kleine dort ausharren in Dunkelhaft, oft in der Zwangsjacke. Manchmal mit Zwangsjacke und Knebel. Da entfiel dann sogar das Herausheben des Abortkübels, wofür die Falltür sonst kurz geöffnet wurde.

Es gab im Heim zwei Zwangsjacken, beide aus Leinen, eine mit Lederriemen und Schnallen, die andere mit Bändern, vorne oder hinten zu binden. Sie waren bis 2007 im Einsatz. Was war der Anlass für solche Bestrafungen, frage ich Heidi. Sie sieht mich ratlos an und zuckt mit den Achseln. "Alles. Einfach alles. Je nach Schwester und Laune. Man wusste es nie. Wenn man frech schaute. Oder auch nur das:" Sie hüpft auf und ab und rudert mit den Armen.

Die Dunkelhaft dauerte bis zu drei Tagen. In Schwester Pias Kellerverlies gab es keinerlei Lichtquelle. Es hat lange gedauert, bis Heidi die Angst vor Dunkelheit in geschlossenen Räumen überwand. Nicht allen ihrer Leidensgenossinnen ist dies gelungen.

Rettung aus langer Not

Am Fuße des Gebäudekomplexes, den ich mit Heidi durchquert habe, ist eine Lourdes-Grotte in den Felsen gemauert. Davor steht eine Gedenkpyramide für Dr. Dollfuß, gewidmet von einem Neuen Österreich. Über dem Ausgang der Madonnenkapelle prangt die Inschrift "O Maria, Mutter mein, ich lade dich zum Sterben ein". Die elf Schwestern, die ihr Erdendasein damit verbrachten, hier hunderte "schwierige Mädchen" in Schach zu halten, waren durchwegs Frauen aus einfachsten Verhältnissen ohne jede Ausbildung. Ihre Ehe mit Jesus genügte. Was sie taten, taten sie für ihn, beseelt von Angst, Wut, Verachtung und Frömmigkeit. Gottesfurcht, so sagten sie den Mädchen in guten Momenten und deuteten dabei hinauf zur Kaiser-Max-Grotte, Gottesfurcht bringt Rettung und erlöst uns von unserer irdischen Qual. Gottesfurcht und Dankbarkeit. Du musst dankbar sein, Mädchen, dass wir für dich sorgen und eine anständige Frau aus dir machen. Damit du nicht so eine wie deine Mutter wirst. Mach es wie unser Kaiser da droben und bete um deine Rettung.

Heidis Gebete blieben acht Jahre lang ungehört, bis eine Bekannte ihrer Mutter die Sechzehnjährige zu sich nahm. Heidi weiß nicht, wie lange sie sonst in Martinsbühel hätte bleiben müssen. Manche waren ewig dort, Aschenputtel auf Lebenszeit, sagt sie. Nie wird sie den Moment vergessen, als sie zum ersten Mal in Freiheit auf der Innsbrucker Maria-Theresien-Straße stand, voller Angst, im Menschenstrom zu ertrinken oder von einstürzenden Hausmauern erschlagen zu werden. Der Straßenlärm war unerträglich. Sie presste die Hände auf die Ohren, "und trotzdem war es wie ein Rausch".

Nach einer, wie sie sich erinnert, glücklichen Kindheit in Jenbach war Heidi von ihrem achten bis zum sechzehnten Lebensjahr im Mädchenheim Martinsbühel interniert, von 1978 bis 1985, zuvor monatelang auf der berüchtigten "Kinderbeobachtungsstation" der Psychiaterin Nowak-Vogel. Der Grund war der nach damaligen Tiroler Maßstäben "lockere Lebenswandel" ihrer Mutter, auch Alkoholprobleme ihres Stiefvaters. Nach nachbarschaftlichen Denunziationen bewirkten brachiale "Fürsorgemaßnahmen" die Zerschlagung von Heidis Herkunftsfamilie, indem sie und ihre beiden Geschwister deportiert und der Kontakt mit ihrer Mutter unterbunden wurde.

Acht Jahre lang hatte sie keine Ahnung, was man mit ihr vorhatte, warum und wie lange. Besuch von der Fürsorge erhielt sie nie. Ihren älteren Bruder fand sie 27 Jahre nach der Trennung wieder. Die Hauptschule schloss sie nachträglich mit 23 Jahren ab, eine Bürolehre mit 32. Im Heim hatte sie trotz ihrer Intelligenz die Sonderschule besucht. Über Korrespondenz verfügt sie nicht. Ausgehende Briefe wurden diktiert, eingehende zensuriert, beigelegtes Geld wurde von den Nonnen generell "konfisziert", sprich gestohlen.

Auch die Unterhaltszahlungen, die für Heidi und die anderen Heimkinder von Eltern, Land und Bund geleistet wurden, kassierte der Orden. Eine Buchhaltung ist nicht überliefert. Alles ist weg. Die acht Jahre ihrer "Zwangs-Heimarbeit" fehlen in Heidis Pensionskonto. Dennoch sind diese Jahre nicht auszulöschen. "Es ist nicht so, als wäre man aus einer Narkose aufgewacht." Die gesundheitlichen und psychischen Folgen haben sich ihr nachhaltig und unwiderruflich eingebrannt, sei es in Form von Lähmungen, Fehl- und Totgeburten, gebrochener Finger, fehlender Zähne und schwerer anderer körperlicher Schäden sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung. Heute ist Heidi laut Amtsarzt zu 70 Prozent behindert und berufsunfähig.

Kampf gegen Windmühlen

Die Verantwortlichen, das wären die Republik Österreich, die Tiroler Jugendwohlfahrt, die beteiligten Bezirkshauptmannschaften und Gemeinden, die katholische Kirche und der Benediktiner/innen-Orden. Aber die bleiben un(an)greifbar, bis auf die paar Ausführende, jene Klosterschwestern, die für Gottes Lohn den ihnen Anbefohlenen das Leben zur Höllen machten. Die meisten sind inzwischen verstorben, die übrigen dement, also nicht mehr verhandlungsfähig. Schadenersatzforderungen ehemaliger Heimkinder, die wie Heidi für ihr Leben gezeichnet sind, stoßen auch bei weltlichen Behörden auf taube Ohren, sei es bei Stadt, Bezirk, Land oder Bund, den höchstverantwortlichen Trägerinstanzen. So ruht beispielsweise Heidis Antrag auf Ersatz des langen Verdienstentgangs seit Jahren beim Bundessozialamt.

In ihrer Pensionsberechnung fehlen viele Jahre der Ausbildung und des Einkommens. Trotz nachgeholter Abschlüsse konnte sie den Niedriglohnsektor nicht verlassen. Aufgeben will sie die Forderung dennoch nicht. Kirche, Orden, Stadt, Bezirk, Land und Bund schanzen einander die Verantwortung zu, doch keiner will sie haben. Es ist ein Apparat von kafkaesker Dimension. Heidi sieht sich in einem Kampf gegen Windmühlen, den sie nicht einmal in Form einer Zivilklage führen könne, denn wovon sollte sie sich einen Rechtsanwalt leisten? Und welcher Armada von Anwälten sähe sich dieser gegenüber? Wie könnte sie für allfällige Gerichtskosten aufkommen, mit denen sich andere Heimopfer nach erfolglosen Zivilklagen bereits konfrontiert sahen?

"Zwischen uns und den Instanzen herrscht keine Waffengleichheit", sagt sie. Mittlerweile wurden die Schicksale der ehemaligen Tiroler Heimkinder historisch erforscht, kulturell bearbeitet und auch medial einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die vormals "schlimmen Kinder" haben dabei brav kooperiert, führten Besucher durch ihre einstigen Folterstätten, ließen ihre Geschichten und Porträts ins Internet stellen (Jetzt reden wir! Ehemalige Heimkinder erzählen, www.heimkinder-reden.at), nahmen an Podiumsdiskussionen und Buchpräsentationen teil, gingen keiner Belastung aus dem Weg, auch nicht der Preisgabe intimer und schmerzhafter Details. Eine Betroffenheitswelle wurde erzeugt – aber die allein machte keinen Heller locker. Gewiss, es geht um Bewusstmachung, um Anerkennung, die "Restitution von Würde", aber eine materielle Restitution folgte ihr nicht.

Der Optimismus der letzten Jahre ist verflogen. Die Bearbeitung ihrer Geschichte hat die ehemaligen Heimkinder aufgerieben: Öffentlichkeitsarbeit, Behördenirrwege, mangelnde Akteneinsicht, taube Ohren, fragwürdige Gutachten, eingestellte Ermittlungen, geplatzte Hoffnungen, Almosen statt Entschädigung. Ja, auch Neid und Zwietracht gab es. Denn wie sollten gerade sie, als Verbrechensopfer, geschlossen auftreten, mit all ihren unterschiedlichen Lebensläufen, Heimen, Tätern, Leiden? "Wir werden immer weniger", sagt Heidi. "Die meisten von uns haben resigniert, viele sind krank, manche verstorben." Zwar hätten ihnen die mediale Unterstützung und sogar offizielle Betroffenheitsbezeugungen der letzten Jahre durchaus den Rücken gestärkt, dennoch sähen sie sich der alten Zermürbungstaktik ausgesetzt: Man behandelt die Überlebenden des breitangelegtesten Verbrechens der Nachkriegszeit weiterhin als Bittsteller, anstatt sie in ihrer berechtigten Forderung nach Entschädigung wahrzunehmen. Geschweige denn sie zu ermutigen.

Doch der Mündelakt "Adelheid F." lügt nicht, so bruchstückhaft er der Betroffenen auch vorliegen mag: Die Republik Österreich hat 1977 für das damals achtjährige Kind Obsorge und Vormundschaft übernommen. Damit war es in schlechten Händen. "Vater Staat" hat die Interessen seines Mündels grob verletzt, indem er es fahrlässig und kontrollfrei ungeeigneten Instanzen und Personen anvertraute. Daraus ist der mittlerweile 49-jährigen Heidi und somit ihren Nachkommen ein immenser Schaden erwachsen, der jeden Tag wächst. Kein Verantwortlicher will dafür aufkommen. Falltür auf, Kind hinein, Falltür zu. Bis auf weiteres geschlossen.

Immer noch blühen die Blumen besonders schön

Das Benediktinerstift Sankt Peter in Salzburg ist seit 1888 Eigentümer der Liegenschaft Martinsbühel. Die dazugehörige Bauernschaft wird weiterhin bewirtschaftet, die weitläufigen Heim- und Schulgebäude sind verwaist. Wie viele Liegenschaften sich ansonsten im Besitz des Benediktinerordens befinden, wie viele Kulturgüter und wie viel liquides Vermögen, lässt sich selbst mit viel Fantasie nicht ermessen. Davor kapituliert jedes Finanzamt. Nur als 2014 vier herrenlose Millionen Euro in einer schwäbischen Klosterkassa auftauchten, kam die Finanzgebarung des Ordens kurz ins Gerede.

Das ehemalige Mädchenheim wird heute im Internet von der Tirol-Werbung als Landschaftsidylle vermarktet.
Foto: David Wallinger

Das ehemalige Mädchenheim Martinsbühel, nach wie vor in Kirchenbesitz, wird heute im Internet von der Tirol-Werbung, auf touristischen Blogs und sogar vom ORF Tirol als Landschaftsidylle mit historischem Unterbau vermarktet. In solchen Beiträgen lauten schwärmerische Bildunterschriften zum Beispiel "Der Innenhof und das alte Heim mit den liebevoll gepflegten Außenanlagen".

Der aktuelle Betreiber des kircheneigenen Bauernhofs propagiert sich netzwirksam als Künstler. In den einschlägigen Beiträgen darf auch der klagende Hinweis, dass "die Nonnen nicht von Vorwürfen des körperlichen und sexuellen Missbrauchs an ihnen anvertrauten Kindern verschont blieben", nicht fehlen. Liebliche Zitherklänge begleiten auf diversen Medienkanälen das "100-Jahre-Kaiserschützen-Jubiläum" in der Kapelle Martinsbühel. Prominent wird das mittelalterliche Steingemäuer ins Bild gerückt. Rosen bekränzen den Aufgang zur Lourdes-Grotte. Denn von Mädchenblut getränkt, blühen die Blumen besonders schön.

Heute wie damals. (Sabine Wallinger, 8.12.2018)