Bevor ich mich gänzlich verabschiede, gibt es von mir heute noch einen letzten Blog-Beitrag über eines der Projekte, das ich am Österreichischen Archäologischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im letzten Jahr noch durchgeführt habe – die Untersuchung der unbekannten Heiligen vom Hemmaberg.

Pilgerstätte des Frühen Mittelalters

Der Hemmaberg im südlichen Kärnten steht bereits seit dem späten 19. Jahrhundert im Zentrum archäologischen Interesses. Seit 1978 wurden auf dem Gipfelplateau des 842 Meter hohen Berges unter der Leitung von Franz Glaser am Landesmuseum in Kärnten die Überreste eines großen frühchristlichen Pilgerheiligtums freigelegt, das dort zwischen dem späten 4. und dem Ende des 6. Jahrhunderts n. Chr. vermutlich Pilger aus dem gesamten Ostalpenraum anzog.

Das Gipfelplateau des Hemmabergs mit der heutigen Kirche St. Hemma und Dorothea (Blick nach Osten).
Foto: C. Kurtze/ ÖAI@ÖAW

Ihre Bedeutung und Anziehungskraft verliehen den insgesamt fünf Kirchen die Reliquien von Heiligen, die in den Kirchen aufbewahrt wurden. Deren Namen und Herkunft wurden jedoch nicht überliefert, da das Pilgerheiligtum im frühen 7. Jahrhundert zerstört wurde und auch keine Schriftquellen zu dem Ort existieren. Die Überreste einer solchen Reliquie konnten 1991 bei Ausgrabungen der im 5. Jahrhundert erbauten vierten Kirche am Hemmaberg im Bereich unter dem Altar archäologisch dokumentiert werden.

Diese Funde – Marmorfragmente, verbrannte Steinfragmente eines Kästchens, Verputzreste, menschliche Knochen, Holzkohle, handwerklich unspektakuläre Verzierungselemente und ein silberner Fingerring – wurden nun erstmals durch ein internationales Team von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern unter der Leitung von Sabine Ladstätter, die bereits an der Ausgrabung beteiligt war, und von mir untersucht, um der Geschichte dieser unbekannten Reliquie auf die Spur zu kommen.

Rekonstruktion der vierten Kirche auf dem Hemmaberg, basierend auf den Befunden der archäologischen Ausgrabungen 1991.
Foto: 7reasons/ÖAI@ÖAW
Die Fundsituation des Reliquienschreins im Jahr 1991.
Foto: F. Glaser/ Landesmuseum Kärnten

Der verlorene Schädel

Zentrales Element des Fundes waren zahlreiche menschliche Knochen, die mittels anthropologischer Bestimmung als das fast vollständige Skelett einer Frau, die im Alter zwischen 35 und 50 Jahren verstarb, identifiziert wurden. Mittels C14-Analysen konnte festgestellt werden, dass die Frau im 1./2. Jahrhundert n. Chr. lebte – und damit Jahrhunderte bevor sie am Hemmaberg als Heilige verehrt wurde. DNA-Analysen lassen darauf schließen, dass sie ursprünglich aus dem östlichen Mittelmeerbereich stammte, während Isotopenanalysen zeigen, dass sie ihre letzten Lebensjahre in Zentraleuropa, wenn nicht sogar im Großraum des Hemmabergs verbrachte.

Auffallend ist das fast vollständige Fehlen des Schädels und damit des prominentesten Teils des Körpers. Teilungen der Körper von Heiligen, um den Bedarf an Reliquien zu decken, waren bereits ab dem 4. Jahrhundert weit verbreitet, daher ist es denkbar, dass der Schädel entnommen und an einem anderen Ort deponiert wurde. Die Knochen selbst zeichnen sich außerdem durch einen sehr hohen Grad der Fragmentierung aus, der sich nicht alleine durch die lange Bodenlagerung erklären lässt. Es ist denkbar, dass das Skelett der Heiligen bewusst zerkleinert wurde, um in einem Schrein Platz zu haben.

Das verbliebene Skelett der Heiligen vom Hemmaberg.
Foto: N. Gail/ ÖAI@ÖAW

Wie der Hemmaberg mit Oberitalien in Verbindung steht

Auch die Überreste des Steinkästchens, in dem die Überreste der Heiligen aufbewahrt wurden, deuten auf weitreichend überregionale Kontakte des Pilgerheiligtums am Hemmaberg hin. Die verbliebenen Fragmente wurden im Zuge der Untersuchung aufwendig neu bewertet und rekonstruiert, sodass wir heute von einem 25 mal 38 mal 28 Zentimeter großen Reliquienschrein in für derartige Behältnisse typischer Sarkophagform ausgehen können. Materialanalytische geologische Untersuchungen am Gestein sowie eine exakte Parallele aus einer Kirche in Pergine in Italien lassen darauf schließen, dass das Kästchen vermutlich im Trentino hergestellt wurde.

Dies ist nicht die einzige Verbindung des Hemmabergs mit Oberitalien, denn auch die Mosaiken, mit denen die Kirchen ausgeschmückt waren, wurden vermutlich von Handwerkern aus dieser Region angefertigt. Für die Ausstattung der Reliquiengrube, des Aufbewahrungsorts unter dem Altar, wurden Marmorplatten verwendet, bei denen es sich um umgearbeitete römerzeitliche Bauelemente, möglicherweise von Grabbauten aus der römischen Siedlung im benachbarten Globasnitz, handelte.

Rekonstruktion des Reliquienschreins, in dem die Heilige aufbewahrt wurde.
Foto: 7reasons/ÖAI@ÖAW
Die Reliquiengrube mit Marmorumfassung und Reliquienschrein unter dem Altar der vierten Kirche (Rekonstruktion).
Foto: 7reasons/ÖAI@ÖAW

Die älteste österreichische Märtyrerin

Neben den Steinfragmenten und Knochenresten befanden sich auch noch einige unscheinbarere Gegenstände in der Grube. Holzfragmente und kleine, rechteckige Plättchen aus Tierknochen könnten die Reste eines verzierten Holzkästchens sein. Das Holz wurde als Lindenholz identifiziert, das für kunsthandwerkliche Gegenstände sehr beliebt war. Beinverzierungen waren für solche Kästchen auch in spätantiker Zeit typisch. Bleibt die Frage, was in dem Kästchen aufbewahrt wurde. Möglicherweise stand es in Zusammenhang mit einem Silberring, der ebenfalls in der Reliquiengrube gefunden wurde. Der große Durchmesser des Rings lässt eher ausschließen, dass er direkt mit dem Skelett der sehr grazilen Frau in Verbindung stand. In schriftlichen Quellen wird jedoch immer wieder die Bedeutung von Ringen als Zeugnissen des frühchristlichen Märtyrertodes erwähnt, sodass es denkbar wäre, dass es sich hierbei um eine weitere Reliquie – eine sogenannte Berührungsreliquie, die nur mit dem toten Körper des Heiligen in Berührung gekommen war – handelte.

Obwohl der Name der Heiligen und damit ihre genaue Identität vermutlich für immer im Verborgenen bleiben werden, konnte die wissenschaftliche Untersuchung der Überreste ein wenig Licht auf diesen "Cold Case" werfen. Mit der Zerstörung des Pilgerheiligtums am Hemmaberg am Beginn des 7. Jahrhundert geriet auch sie langsam in Vergessenheit, und damit auch die Erinnerung an die nachgewiesen älteste auf österreichischem Staatsgebiet verehrte Märtyrerin. Mithilfe der Archäologie tritt sie nun 1.500 Jahre nach ihrer Deponierung wieder aus der Anonymität heraus, und mit ihr die Erinnerung an ein florierendes Zentrum des frühen Christentums in den Ostalpen. Die Bedeutung und Verehrung von Reliquien ist für Gläubige bis heute ungebrochen, und so können auch die Überreste der unbekannten Heiligen vom Hemmaberg in der dort heute noch stehenden Kirche besucht werden. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung wurden nun erstmals in Form eines reich bebilderten und auch für Laien gut verständlichen Sammelbandes, der in diesen Tagen erscheint, vorgelegt. (Michaela Binder, 6.12.2018)