Iuri K. (75) am Tisch seines Sohnes und seiner Schwiegertochter in Wien. Diese pflegen ihn bei sich daheim.

Foto: Robert Newald

Wien/Tiflis – Wie jede Maßnahme der Behörden ist eine Abschiebung rechtens, wenn es einen entsprechenden Bescheid gibt. Es sei denn, ein übergeordnetes Gericht setzt den Spruch außer Kraft und stoppt den Abtransport.

So lautet das rechtsstaatliche Prozedere – das im Fall des 75-jährigen Georgiers Iuri K. (Namen der Redaktion bekannt) jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit gebrochen wurde.

Gerichtsbescheid kam früher

Denn als der Flieger mit dem schwerkranken Mann am Nachmittag des Dienstag, 30. Oktober, in Wien in Richtung der georgischen Hauptstadt Tiflis abhob, war das Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BvwG), mit dem K. aufschiebende Wirkung gegen den Abtransport gewährt wurde, bereits mehrere Stunden alt.

Um genau 11.25 Uhr am selben Tag war das Dokument laut Amtssignatur ausgestellt und laut einer BvwG-Sprecherin allen Verfahrensparteien "unmittelbar" zugestellt worden.

Zwei Schlaganfälle, ein Herzinfarkt

Letzteres vorausgesetzt, hätte die Fremdenpolizei also von dem Abtransport absehen müssen. Doch auch aus humanitären Gründen hätte man besser darauf verzichtet: Aus dem Familienverband gerissen wurde ein Mann, der nach zwei Schlaganfällen und einem Herzinfarkt sowie mit einer schweren Lungenerkrankung Betreuung rund um die Uhr braucht. Der längere Strecken nur mit dem Rollstuhl schafft.

Der in seinem Heimatland Georgien niemanden mehr hat – und den sein seit 2003 in Österreich als anerkannter Flüchtlinge lebender Sohn, dessen Ehefrau und der in Wien geborene Enkel daher vor eineinhalb Jahren zu sich holten. Mit der Begründung, der 75-Jährige würde in Georgien in einer aussichtslose Lage geraten, beantragten sie für ihn Asyl.

Auf eigene Kosten zurückgeholt

Der Sohn, ein 52-jähriger Stuckateur, der unter anderem den Wiener Stephansdom mit restauriert hat, erhebt im STANDARD-Gespräch schwere Vorwürfe gegen die Polizei sowie gegen die Schubhaftbetreuung des Vereins Menschenrechte Österreich (VMÖ). Seinen Vater, der bis auf weiteres das Recht auf Aufenthalt in Österreich hat, hat er am 8. November auf eigene Kosten aus Georgien zurückgeholt. Rund 700 Euro habe das gekostet, sagt er, die Spitalsrechnung für den völlig Erschöpften in Tbilisi inklusive.

Die Polizei habe seinen Vater am Sonntag, den 28. Oktober mit falschen Behauptungen aus der Wohnung der Familie geholt, schildert Nikolo K.: "Sie sagten, er werde einem Amtsarzt vorgeführt. Da wir im Rahmen des Asylberufungsverfahrens auf eine ärztliche Untersuchung gefasst waren, glaubten wir das zuerst einmal".

"Polizisten trugen ihn in den Besucherraum"

Doch statt in eine Krankenabteilung sei der Vater ins Polizeianhaltezentrum (Paz) Rossauer Lände und dort "in eine ganz normale Zelle mit etlichen anderen Schubhäftlingen gebracht worden". "Ich habe ihn in der Schubhaft zwei Mal besucht, Sonntag und Montag. Polizisten trugen ihn in den Besucherraum, denn den Rollstuhl hatten sie beim Abholen nicht mitgenommen".

Mehrmals, so Nikolos K., habe er versucht, mit den VMÖ-Schubhaftbetreuern ins Gespräch zu kommen, um ihnen zu schildern, dass ein Flug für seinen Vater gesundheitlich höchst belastend sei. Die VMÖ-Leute hätten die Kommunikation verweigert. Nur ein in anderer Angelegenheit anwesender Diakonie-Rechtsberater habe ihn angehört. Dieser habe der Polizei und dem VMÖ zu vermitteln versucht, dass stündlich mit einem BvwG-Entscheid zu rechnen sei. Das aber habe niemand interessiert.

Sohn rief Rettung an

In seiner Verzweiflung, so Nikolo K., habe er aus dem Besucherraum heraus die Rettung angerufen. Gekommen seien die Sanitäter nicht – "aber mich haben sie aus dem Paz hinausgeworfen".

Als der Vater dann am 30. Oktober im Abschiebeflieger saß, rief er einen Kameraden aus Militärzeiten in Tiflis an; er selber kann Georgien als politisch Verfolgter nicht betreten. Der Bekannte fuhr zum Flughafen – um dort Iuri K. einsam auf einer Wartebank sitzend vorzufinden. Er brachte den 75-Jährigen in ein Krankenhaus, wo dieser bis zum Rückflug aufgepäppelt wurde.

Ministerium antwortet indirekt

Wie konnte es zu der Abschiebung wider den Gerichtsbescheid kommen? Wann genau erfuhren die zuständigen Behörden und die Polizei von dem Spruch? Im Innenministerium antwortet Sprecher Christoph Pölzl auf diese Fragen nicht direkt: "Langt ein Erkenntnis des BvwG über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung rechtzeitig beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein, werden alle notwendigen Schritte in die Wege geleitet und eine etwaige in der Planung befindliche Außerlandesbringung gestoppt", schreibt er.

VMÖ kritisiert das Gericht

Beim VMÖ sagt Geschäftsführer Günter Ecker, es "stimme nicht", dass Nikolo K. der Schubhaftbetreuung den schlechten Zustand seines Vaters geschildert habe und nicht angehört worden sei. Auch habe Iuri K. den Flieger, in dem sich ein sogenanntes VMÖ-Medic-Team befand, in Tiflis "selbstständig verlassen". Nach der Übergabe am Flughafen seien nicht mehr der VMÖ, sondern georgische Behördenvertreter verantwortlich gewesen.

"Kritisch zu hinterfragen", so Ecker, sei vielmehr das Vorgehen des BvwG. Das Berufungsgericht warte in Asylfällen mit der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung manchmal bis zur Festnahme zum Zwecke der Abschiebung oft viel zu lange zu. Das sei das Problem. (Irene Brickner, 19.11.2018)