Am Rand des Möglichen: Rentiere auf Spitzbergen.
Foto: Ben Birchall

Wien – Die innere Uhr von Lebewesen tickt ungefähr im 24-Stunden-Rhythmus und wird mit dem Tag-Nacht-Wechsel synchronisiert. Hinter dem nördlichen und südlichen Polarkreis liegen aber zwei Regionen, in denen die Wörter Tag und Nacht eine andere Bedeutung erhalten. Je näher man dem dort dem jeweiligen Pol kommt, desto länger ist die Periode, in der es – je nach Jahreszeit – durchgehend dunkel oder hell bleibt.

Eine internationale Forschergruppe mit österreichischer Beteiligung hat nun untersucht, wie sich solche extremen Bedingungen auf den circadianen Rhythmus von Tieren auswirkt – konkret ging es um eine Rentierpopulation auf der Inselgruppe Spitzbergen. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal "Scientific Reports" veröffentlicht.

Hintergrund

Damit in der Polarregion lebende Tiere ausreichend Fettreserven für den langen Winter anlegen, müssen sie in der kurzen Vegetationszeit so viel wie möglich fressen und womöglich auf tägliche Ruhephasen verzichten. Dazu schien die Beobachtung zu passen, dass bei Spitzbergen-Rentieren Pausen tatsächlich zu fehlen scheinen. Man nahm daher an, dass die Evolution die innere Uhr der Tiere gleichsam stillgelegt hat, um im Dauerlicht des Sommers fressen "rund um die Uhr" zu ermöglichen.

Gemeinsam mit norwegischen und britischen Kollegen sind Walter Arnold und Thomas Ruf vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien dem nachgegangen. Sie haben mit einem Telemetriesystem erstmals auch die Physiologie von freilebenden Rentieren auf Spitzbergen untersucht und nicht nur das Verhalten beobachtet. Dabei wurden Faktoren wie die Bewegungsaktivität der Tiere, die Fressaktivität, die Körpertemperatur und die Herzschlagrate als Maß für den Energieumsatz der Tiere erfasst.

Abweichungen

Das Ergebnis war für die Forscher überraschend: In allen Messreihen war eine klarer Tagesrhythmus nachweisbar. Die Stärke dieser Rhythmik nahm im Sommer zwar beträchtlich ab. Die Ursache war aber nicht das Dauerlicht, sondern die Verfügbarkeit frisch wachsender Pflanzennahrung. Um möglichst viel zu fressen, ignorieren die Tiere offenbar weitgehend ihre innere Uhr, obwohl diese nach wie vor tickt.

Auch im Winter, wenn die Rentiere ihre Stoffwechselaktivität auf weniger als die Hälfte des Sommerniveaus absenken – ein Rekordniveau unter wildkebenden Huftieren –, war die circadiane Rhythmik abgeschwächt. Während der Polarnacht wich die Zykluslänge zudem leicht von 24 Stunden ab, mit Unterschieden zwischen den untersuchten Individuen und je nach Messparameter.

Dieses "Freilaufen" des inneren Rhythmus aufgrund des Fehlens einer äußeren Lichtrhythmik in anhaltender Dunkelheit werten die Forscher als ultimativen Beweis, dass die innere Uhr auch bei den Rentieren Spitzbergens das ganze Jahr über nicht aufhört zu ticken. Denn wenn die äußere Lichtrhythmik in der Polarnacht fehlt, werde der circadiane Rhythmus nicht mehr genau auf 24 Stunden geeicht und der molekulare Mechanismus der inneren Uhr mit seinen individuellen Unterschieden trete zutage, so Arnold. (red, 17. 11. 2018)