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Richard Sennett ist ein Flaneur. Genauso wie er weltweit durch Städte streift, erkundet er flanierend unsere Geistesgeschichte.

Corbis via Getty Images / Colin McPherson

Richard Sennett ist müde. Ob er einen kurzen Spaziergang machen könne, bevor wir das Gespräch beginnen? Der 75-Jährige hat einen Schlaganfall hinter sich. Nach Wien ist er trotzdem gekommen, am Abend wird er sein neues Buch vorstellen. Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens ist nichts weniger als sein Vermächtnis. Noch einmal bündelt der große Soziologe seine Lebensthemen: die Zukunft der Städte, die Verwerfungen des "flexiblen Menschen". Nach fünf Minuten ist Sennett von seinem Spaziergang zurück.

STANDARD: Sie beschäftigen sich bereits Ihr ganzes Leben mit der Struktur von Städten. Jetzt sind Sie aufs Land gezogen, höre ich ...

Sennett: Nein, nicht ich, meine Kinder. Mein Sohn ist Künstler, er braucht Platz.

STANDARD: Ich nehme an, Sie besuchen ihn oft. Wie erklären Sie sich das immer weitere Auseinanderklaffen von Stadt und Land?

Sennett: Dieser Prozess vollzieht sich in Europa bereits seit Jahrhunderten. Immer mehr Menschen ziehen vom Land in die Stadt. Das Land wird strukturschwächer, das kurbelt wiederum die Landflucht an.

STANDARD: Im Jahre 2050 werden zwei Drittel aller Menschen in Städten leben. Was ist an Städten so ungemein attraktiv?

Sennett: Es gibt einen Push- und einen Pull-Faktor. Menschen werden einerseits vom Land vertrieben – der Grund liegt in der Industrialisierung der Landwirtschaft und der Abnahme von Arbeitsmöglichkeiten -, und sie werden andererseits von Städten angezogen. Die Geldressourcen sind immer mehr in Städten zu finden. Wobei das Problem dabei ist, dass sie immer ungleicher verteilt sind, es für junge Menschen immer schwieriger wird, Kredite für Unternehmen oder Start-ups zu bekommen.

STANDARD: Wie kann eine Balance zwischen Kapital und Kleinbetrieben entstehen?

Sennett: Das eine ist, dass man die Finger von Großunternehmen wie Google oder Amazon lassen sollte. Diese Firmen bringen Städten wenige Arbeitsplätze und kaum Steuereinnahmen. Es ist wichtiger, lokale Initiativen zu fördern, Unternehmen, die unter Umständen auch scheitern können. Schauen Sie aus dem Fenster. Da draußen sehen Sie eine aufgelassene Parkgarage. Dort sollte Wien sein Geld investieren und Workspaces schaffen.

STANDARD: Ein Rave fand hier vorige Nacht statt. Sie konnten kaum schlafen ...

Sennett: Ja, auch deswegen plädiere ich für Arbeitsplätze und nicht für einen Veranstaltungsort (lacht).

STANDARD: Auch Google und Amazon ziehen gern in verlassene Industriearchitekturen. In Dublin kann man sehen, wie ganze Stadtteile von den Social-Media-Giganten revitalisiert worden sind. Schlecht?

Sennett: Haben Sie in diesen Vierteln ärmere Leute gesehen? Muslime? Das sind künstliche Schickimicki-Orte. Hier herrscht ein großer Arbeitsdruck, der mit allen Mitteln verschleiert wird. Man macht auf Spaß, spielt zwischendurch Pingpong und isst Sushi beim Betriebsjapaner. Die Beschäftigten haben 16-Stunden-Tage, entweder du machst mit, oder du bist draußen.

STANDARD: In der Serie "Silicon Valley" wird diese schöne neue Arbeitswelt verarscht. Woher kommt ihre ungemeine Attraktivität für viele?

Sennett: Eine tolle Serie! Bereits als ich in den 1990ern Der flexible Mensch geschrieben habe, war das Silicon Valley ein potemkinsches Dorf der vermeintlichen Offenheit. Aber noch ein Wort zu Dublin: Nicht Google hat Dublin zu einer moderneren Stadt gemacht, sondern das Faktum, dass es die einzige säkulare Stadt in einem stockkonservativen Land war. Menschen vom Land sind nach Dublin geflüchtet, nur dort hat man etwa Kondome bekommen.

STANDARD: Sie sprechen sich für "offene Städte" aus. Wie offen kann eine Stadt sein? Und wo müssen doch Grenzen gezogen werden, um ein Miteinander zu gewährleisten? Zum Beispiel wenn es um Migration geht?

Sennett: Die Vorstellung, dass Städte unter Migration leiden könnten, ist mir fremd. London oder New York wären ohne Migration nicht die Städte, die sie heute sind. Ich spreche nicht von der einen Million Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, sondern von dem steten Zuzug, der unsere Städte heute auszeichnet. Dieser macht Städte erst lebendig. Wie hoch ist der Prozentsatz an Ausländern in Österreich?

STANDARD: Um die 15.

Sennett: Das ist nicht genug. Österreich braucht mehr Migration! Migranten zeichnen sich oft durch ihren Unternehmersinn aus. Sie bauen kleine Betriebe auf, Städte brauchen diese Energie! Fast alle kleinen Betriebe in London oder New York wurden von Migranten gegründet. Ich glaube, es braucht einen Psychiater, um zu ergründen, warum Länder wie Österreich oder auch Dänemark so hysterisch auf Fremde reagieren.

STANDARD: Haben Sie eine Theorie?

Sennett: Ja, wir wissen, je weniger Menschen mit Fremden zu tun haben, desto größer ist die Angst vor ihnen. Je mehr man Kontakt hat, umso geringer wird sie.

STANDARD: Sie sprechen sich für eine multikulturelle Gesellschaft aus?

Sennett: Niemand braucht einen Einheitsbrei. In der technologischen Welt gibt es die Idee offener Systeme. Genau dieses Prinzip versuche ich für Städte nutzbar zu machen. Sprich, von einem einfach gestrickten System zu einem komplexen, vielgestaltigen zu gelangen. Das entspricht auch dem, wie ich Identität denke: Man hat nicht eine Identität, sondern eine Vielfalt unterschiedlicher Identitäten. So komplex man selbst ist, so komplex ist das Zusammenleben mit anderen. Dieses muss immer wieder neu verhandelt werden.

STANDARD: Das braucht Zeit und Geduld. Breite Diskussionen oder Bürgerbeteiligungen dauern dagegen oft lange. Was tun?

Sennett: Wir müssen die neuen Technologien viel besser nutzen. Auf lokaler Ebene kann man durch Online-Abstimmungen innerhalb von 20 Stunden zu Ergebnissen kommen. Wenn man will, dann lässt es sich auch organisieren.

STANDARD: Aber man will nicht?

Sennett: Genau. Mich nervt dieser Pessimismus in Europa. Der Zynismus, der grassiert, ist falscher Realismus. Packen wir die Probleme an, anstatt die Köpfe in den Sand zu stecken. Indien ist heute der größte Softwareproduzent der Welt, gefolgt von China.

STANDARD: Kreativität sprechen wir diesen Ländern dennoch beharrlich ab.

Sennett: Wieder ein Beispiel für einen falschen Realitätssinn. Wenn wir ein paar Worte auf Arabisch hören, macht uns das mehr Angst als das Faktum, dass in den kommenden Jahren 20 Prozent unserer Jobs der Automatisierung zum Opfer fallen. (Stephan Hilpold, 16.11.2018)