František Topič hat in der Zeit der Okkupation das bosnische Leben, das von der Monarchie geprägt wurde, fotografisch dokumentiert.

Foto: Frantisek Topic

Schon als Jugendlicher hatten ihn die Balkan-Bände von Karl May mehr interessiert als die Indianer. Mitte der 70er-Jahre lernte er Serbokroatisch und war ab dann praktisch jedes Jahr in Jugoslawien, bis zum Kriegsausbruch. Gleich nach dem Bosnien-Krieg (1992–1995) ging er im Auftrag einer internationalen Organisation nach Sarajevo und verbringt seither auch in der Pension viel Zeit in diesem Land.

Warum? Familiäre Bindungen oder Verwandte gab es nicht, auch keine Freundin. "Allerdings", so der pensionierte Hofrat, der nicht namentlich genannt werden will, "meine Mutter war 'made in Bosnia'" – und seine Familiengeschichte Teil einer kaum bekannten Episode des Zerfalls der Habsburger-Monarchie.

Der Großvater war Chemieingenieur im heutigen Tschechien. Im Ersten Weltkrieg wurde er kriegsverpflichtet und ins waldreiche Bosnien geschickt, um aus den Harzen der Bäume Schmiermittel für die Industrie zu gewinnen. Die Großmutter kam aus einer kinderreichen Familie, auch aus Südmähren, und verdingte sich als Schreibkraft. Auch sie wurde nach Bosnien geschickt, in denselben Betrieb. Beide liebten die Musik, in den langen bosnischen Nächten kam man einander näher, und sie wurde schwanger. Dann war der Krieg vorbei, sie verließen Bosnien, und das Kind kam bereits in Wien zur Welt.

"Kultur- und Zivilisierungsmission"

Die alten Verbindungen wirken in manchen Familien bis heute weiter. Bereits ab der Okkupation Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn 1878 kamen tausende Kakanier im Rahmen der "Kultur- und Zivilisierungsmission" ins Land, manche blieben 40 Jahre. Sie bauten Straßen, Schulen und Eisenbahnstrecken. An ihrem Projekt, eine bosnische Nation zu schaffen, scheiterten sie jedoch. Die Beamten und Kaufleute aus den Ländern der Monarchie wurden kuferaši genannt – also "jene, die mit dem Koffer kamen".

Der Begriff implizierte, dass diese Ausländer zwar mit einem Koffer kamen, aber später das Land mit vielen Koffern verließen. Sie wurden mitunter als Ausbeuter gesehen, als "Parasiten, die auf Kosten der lokalen Bevölkerung leben", erklärt der Historiker Enes S. Omerović, der an der Uni Sarajevo zu dem Thema forscht. Diese Einstellung hatte auch damit zu tun, dass manche dieser Ausländer etwa in der Forstverwaltung ein Vermögen verdienten.

Symbole entfernt

Das Wort kuferaši wurde das erste Mal 1906 erwähnt. Als die österreichisch-ungarische Monarchie im Herbst 1918 zusammenbrach, wurden die ehemaligen Okkupatoren, die Deutsch sprachen, auf der Straße mitunter attackiert, und das nicht nur verbal. Manche Tschechischsprachige feierten hingegen in Sarajevo mit dem "slawischen Brudervolk" die Befreiung. Es herrschte Euphorie – vor allem unter den Orthodoxen. "Alle Symbole des österreichisch-ungarischen Reiches wurden entfernt, alles, was auf Deutsch geschrieben war, aber auch etwa das Denkmal für Franz Ferdinand und Sophie", erzählt Omerović.

Es war die Zeit, als der Nationalismus im Habsburger-Reich, aber auch im Osmanischen Reich immer stärker wurde. So wie die deutschnationale Bewegung für den politischen Anschluss der deutschsprachigen Siedlungsgebiete an das Deutsche Reich plädierte, so wollten serbische Nationalisten einen homogenen serbischen Nationalstaat oder ein südslawisches Großreich unter serbischer Führung. Ein solches wurde durch das Königreich Jugoslawien auch geschaffen.

Chaos und Bürgerwehren

In diesem Königreich waren die Kakanier nicht mehr wirklich erwünscht. Von den ehemaligen k. und k. Offizieren wurden nur jene aus der Marine übernommen, denn in Serbien gab es zuvor logischerweise keine Seestreitkräfte. Laut der Volkszählung aus dem Jahr 1910 befanden sich 120.000 Ausländer in Bosnien-Herzegowina. Etwa die Hälfte waren Slowenen oder Kroaten und insofern nach dem Krieg ohnehin Bürger des neuen jugoslawischen Königreichs. Viele der anderen Kakanier verließen bereits im November 1918 das Land.

Der Zusammenbruch der alten Ordnung hinterließ auch Chaos. Denn es fehlte plötzlich an Richtern, Staatsanwälten und Gendarmen. Im November und im Dezember 1918 brach deshalb Anarchie aus. "Es kam zu Raubüberfällen, Attacken und auch Vergewaltigungen", berichtet Omerović. "Man konnte nicht für ausreichend Sicherheit sorgen." Es bildeten sich Bürgerwehren, und Militärs versuchten für Ordnung zu sorgen. Doch manche der Bewaffneten wurden selbst Teil der kriminellen Bestrebungen. Am 6. November wurde deshalb die serbische Armee nach Sarajevo gebeten. Sogar der Großmufti Mehmed Džemaludin Čaušević verkündete: "Lang lebe König Aleksandar!"

Drei Auswanderungswellen

Während die erste Auswanderungswelle der kuferaši noch unorganisiert war und keine Spuren in den Archiven hinterließ, verließ der zweite Teil 1919 das Land. Es handelte sich um kalkulierte Transporte mit der Eisenbahn. 1919 fuhren allein elf Züge in die Tschechoslowakei, zwei nach Polen, einer nach Rumänien. Die Regierung in Sarajevo musste die Erlaubnis zur Ausreise geben, es war erlaubt, persönliches Eigentum mitzunehmen. Das Hab und Gut wurde genauestens in Listen angeführt. "Damals verließen etwa 2.000 Personen freiwillig das Land", erzählt Omerović.

Eine dritte Auswanderungswelle folgte von 1919 bis 1921. Die Leute wurden dazu gezwungen, auch politische Gründe spielten eine Rolle. "Man argumentierte, dass tschechische Arbeiter 1.-Mai-Feiern organisiert hätten und man deshalb die ausländischen Arbeiter loswerden musste", so Omerović. Manche der ausländischen Arbeiter sympathisierten damals mit den Sozialdemokraten. Und so konnte man politische Gegner und Ausländer gleichzeitig loswerden. "Die meisten von ihnen wurden nach dem Bergarbeiterstreik in Husino im Dezember 1920 ausgewiesen", erklärt Omerović.

Nicht mehr ausreichend Ingenieure

Ähnliches geschah im Juni 1920 nach dem Streik der Bahnarbeiter. Alle Ausländer wurden gefeuert. Der Historiker weist darauf hin, dass die Entlassung der Tschechen Jugoslawien geschadet habe. "Denn es waren nicht mehr ausreichend Leute da, die die Maschinen der Eisenbahnen bedienen konnten, die tschechischen Ingenieure waren ja weg." Weil Bosnien-Herzegowina 40 Jahre lang Teil der Monarchie war, gab es zudem am Ende bereits drei Generationen an Kakaniern im Land.

Viele von ihnen hatten nichts mehr mit dem Herkunftsland ihrer Großeltern und Eltern zu tun. Einige "Tschechen" wurden 1929 nach Zagreb geschickt. Dort realisierte man aber, dass sie kein Wort Tschechisch sprachen und auch keine tschechische Staatsbürgerschaft hatten. Sie durften daraufhin wieder nach Sarajevo zurück.

Pensionsansprüche gegenüber vergangenem Staat

Die Ausreisen der kuferaši hatten Folgen. 1910 wurden noch 22.500 Personen gezählt, die Deutsch als Muttersprache angaben, 1921 waren es noch 16.500. Von den Ungarischsprachigen waren noch 2.500 da – 6.500 waren es 1910 gewesen. "Die Anzahl der nationalen Minderheiten nahm in der Zwischenkriegszeit weiter ab", so Omerović.

Viele der ehemaligen bosnischen Soldaten in der k. und k. Armee standen nach Ende des Krieges zudem vor dem Problem, dass jener Staat, der Sold und Pensionen bezahlen sollte – also Österreich-Ungarn –, nicht mehr existierte. Manche suchten verzweifelt in Wien um Pensionen an. "Entscheidend war, wo man 'heimatzuständig' war", erklärt die Wiener Historikerin Tamara Scheer. "Bosnier, die etwa schon lange in Österreich gelebt hatten, hatten Chancen, auch nach dem Krieg in Österreich bleiben zu können."

Run auf die österreichische Staatsbürgerschaft

Dem neuen österreichischen Staat war aber nicht daran gelegen, verarmte ehemalige Soldaten des Kaiserreichs zu unterstützen, deswegen war es schwierig, eine "Heimatzuständigkeit" in Österreich zu bekommen. Offiziere mit guten Verbindungen hatten bessere Chancen. "1918 gab es einen Run auf die österreichische Staatsbürgerschaft", erzählt Scheer. Viele erklärten sich damals als "Deutsche", wie das im neuen österreichischen Staat plötzlich notwendig war. "An den Namen konnte man sehen, dass einige davon aber Ungarn, Tschechen oder Südslawen waren." Manche hätten sogar ihre Namen eingedeutscht, berichtet Scheer.

Heute findet man in Bosnien-Herzegowina – außer Geschäftstreibenden, Diplomaten oder Soldaten – keine Österreicher mehr. Der Wiener Ball ist allerdings seit zwei Jahren sehr beliebt in Sarajevo. Und es gibt zahlreiche Reminiszenzen an die österreichische Zeit – etwa das Teehaus Franz und Sophie oder das Café Habsburg, das Wiener Kaffeehaus und das Hostel Franz Ferdinand. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 12.11.2018)