Bäcker interessieren sich dafür, was andere Bäcker backen, Baumeister wollen wissen, wie andere Baumeister bauen, und natürlich lesen Kolumnisten gern die Kolumnen der Kolumnistenkollegen. Beim Wühlen in der Wühlkiste bei einem Buchhändler meines Vertrauens habe ich eine Entdeckung gemacht: Der Sinn des Lesens von Pieter Steinz.

Steinz, 1963 geboren, war der wahrscheinlich bekannteste Literaturfachmann der Niederlande. Er machte Karriere als Journalist, schrieb ein Buch nach dem andern (etliche Bestseller) und leitete zuletzt den niederländischen Literaturfonds: ein Glückskind, dem alles zu gelingen schien. Bis er 2013 mit der Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) konfrontiert wurde.

ALS ist ein degeneratives Nervenleiden, ein Scheusal von einer Krankheit. Arme und Beine, Sprechorgane und Lunge versagen zusehends ihre Dienste, und ehe einen ALS umbringt, fühlt sich der Kranke wie eingeschlossen in seinem versagenden Körper. Der 2010 an ALS verstorbene britisch-amerikanische Historiker Tony Judd, den ich vor langen Jahren einmal interviewen durfte, hat diese Erfahrung in einem wahrhaft erschreckenden Text (Night) festgehalten.

Steinz nutzte die Zeit, die ihm blieb, um 52 Kolumnen zu verfassen, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel Der Sinn des Lesens erschienen sind. 52 Wochen lang hat er seiner vernichtenden Krankheit standgehalten und alle Stadien seines Verfalls minutiös beschrieben. Er stellte sich seinem Schicksal, wie es nur ein immens passionierter Leser tun konnte: indem er in einem riesigen literarischen Wissensreservoir nach Geschichten suchte, die ihn seinen Zustand besser begreifen und manchmal auch ertragen ließen.

Und wie beeindruckend ist die stoische Coolness des sterbenden Steinz! Da gibt es weder Jammern noch Hadern noch Schönreden, sondern ein realistisches Ertragen des "Pechs", als das er seine Krankheit begreift. Und Dankbarkeit für das, was er erleben durfte, und für die Künstler, die ihn auf seinem Weg begleitet haben: Seneca, Hawthorne, Poe, Thomas Mann, Astrid Lindgren, Jacques Brel, Proust und viele andere mehr.

Pieter Steinz ist im August 2016 gestorben, der Sinn des Lesens hat ihn überlebt. Das Buch ist tieftraurig und macht gleichwohl Mut – zum Leben und zum Lesen. Lesen Sie es. Sie werden es nicht bereuen. (Christoph Winder, 9.11.2018)