Wien – Am Ende des gut dreistündigen Konzertabends vermischten sich Erschöpfung und Euphorie, so wie das nach jeder gelungenen Marathonunternehmung sein soll. Dmitri Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen op. 87 werden ja so gut wie nie komplett aufgeführt, bei den Salzburger Festspielen 2017 hatte Igor Levit die Unternehmung gewagt – und gewonnen. Nun wiederholte der Grenzgänger seine Tour de Force im Wiener Konzerthaus.

Bachs Wohltemperiertes Klavier hatte den russischen Komponisten in den frühen 1950er Jahren zu seiner Großtat angeregt, und Schostakowitschs Update von Bachs sogenanntem Alten Testament der Klaviermusik vermählte die Moderne mit dieser barocken Formenwelt. Wie bei Bach sind auch bei Schostakowitsch nicht nur die Präludien, sondern auch die Fugen Charakterstücke – aber eben solche von kanonischer Konfektionsart.

Weicher, warmer Ton

Igor Levit sieht den umfangreichen Zyklus als ein persönliches, "selbstentblößendes" Tagebuch Schostakowitschs, und der gebürtige Russe trug diese Tagebucheinträge mit der allergrößten Genauigkeit und Redlichkeit vor. Wie mit Samthandschuhen schien der 31-Jährige manchmal zu spielen, mit weichem, warmem Ton, den er immer wieder bis an die Grenze der Hörbarkeit zurücknahm. Einige der schwebenden Übergänge von den Präludien zu den Fugen, fragile Nabelschnüre der Stille zwischen den beiden Werkteilen, wurden im Lungenheilsanatorium Wiener Konzerthaus leider oft von Hustenattacken zerschnitten.

Aber Levit hatte natürlich auch den Berserker drauf, wie im Des-Dur Präludium, einem massiven Scherzo; in der irren Fuge natürlich auch. Die abrupten Registerwechsel, die Schostakowitsch genauso liebt wie Bach, ereigneten sich mit chirurgischer Präzision. In der letzten Fuge des Zyklus, op. 87/24, meint der politisch engagierte Pianist nach 23 Ich-Statements des Komponisten ein finales Plädoyer für das Wir zu erkennen: Levit gab hier noch einmal ordentlich Schub und versuchte mit gewaltigen, feierlichen Doppeloktav-Glockenschlägen eine neue Zeit des positiven Miteinanders einzuläuten. Zumindest im Wiener Konzerthaus ist ihm das gelungen: stehender Beifall für den Ausnahmekünstler. (Stefan Ender, 9.11.2018)