Niedrigste Instinkte angesprochen, Gewaltaktionen gesteuert und das brutale Gesicht der Schreckensherrschaft unverhohlen gezeigt: Knapp acht Monate nach dem "Anschluss", der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich, eskalieren antisemitische Ausschreitungen. Der braune Terror ist endgültig angekommen, das Regime wirkt. In der Nacht von 9. auf 10. November sterben 30 Juden, 7.800 werden verhaftet, etwa 4.000 direkt in Konzentrationslager verschleppt. Viele Juden begehen Selbstmord.

In den – gleichgeschalteten – Zeitungen wird nicht über zerstörte Synagogen, geplünderte Geschäfte, Verletzte, Tote oder Verhaftungen berichtet. Es wird eine andere Geschichte erzählt, die der Vergeltung nach dem Anschlag auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath in Paris am 9. November: Nach dem "Ableben des durch feige jüdische Mörderhand niedergestreckten deutschen Diplomaten vom Rath" sei es "spontan zu antijüdischen Aktionen" gekommen. Zwei Tage später dann der Aufruf von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, weitere Aktionen gegen Juden zu unterlassen. Für den Wiener Historiker Oliver Rathkolb zeigt dieses Vorgehen "das perfekte Funktionieren der totalen Propaganda". Das Regime habe sofort vertuscht, dass die Urheber der Pogrome aus Regimekreisen kommen. "Es wurde organisierte Gewalt eingesetzt, dann eingefangen, um den Druck zu erhöhen." Die Öffentlichkeit sollte den Eindruck haben, das Regime habe die Kontrolle über die Ereignisse. "Die Berichte erzwingen das Bild, dass alles in Ordnung ist", erklärt Rathkolb.

Die Spur der Verwüstung durch die Novemberpogrome der Nationalsozialisten: Allein in Wien wurden 42 Synagogen in Brand gesteckt, auch jene in der Tempelgasse.
Foto: Döw

Die Mehrheit der Bevölkerung sieht einfach zu. "Auf der einen Seite gibt es jene, die mit dieser Enthemmung sympathisieren, andererseits wird die Lage auch selbst als bedrohlich empfunden", sagt Rathkolbs Kollege Florian Wenninger. Natürlich gebe es auch die Geschichten von Leuten, die ihre jüdischen Nachbarn in Sicherheit bringen. Aber, betont der Historiker: "Das sind Einzelfälle." Der öffentlichen Deutung der Nazi-Propaganda, in der die Rede vom gerechten Volkszorn ist, der sich entladen habe, wird "weitgehend geglaubt – oder zumindest nicht nennenswert widersprochen".

Doppelbödige Strategie

Nach außen will sich Deutschland als friedliches Land darstellen, das gegen die Ausschreitungen eingreift. Das Münchner Abkommen, der Vertrag Deutschlands mit Großbritannien, Frankreich und Italien über die Zukunft der Tschechoslowakei, ist eben erst unterzeichnet worden. Die Illusion von Frieden in Europa wird für kurze Zeit aufrechterhalten. "Die Doppelbödigkeit dieser Strategie wird später noch deutlicher", meint Rathkolb. Nämlich dann, als die Juden für die bei den Novemberpogromen verursachten Schäden zahlen müssen, die Judenvermögensabgabe wird vom NS-Regime eingeführt: "Hier wird mithilfe der Medien eine Täter-Opfer-Umkehr vollzogen." Verhaftungen gibt es weiterhin: 30.000 männliche Juden werden in Konzentrationslager gebracht, kurz darauf unter der Prämisse freigelassen, dass sie sofort ausreisen müssen.

Die zentrale Bedeutung des Novemberpogroms in der Erinnerung nach 1945 spiegelt für Wenninger "den Schock über die Zäsur, die dieses Ereignis für die Juden in Deutschland bedeutet", wider: "Bis dahin hatte es im Altreich gesetzliche Diskriminierung, permanente öffentliche Schmähung und punktuelle Gewalt gegeben – jetzt gibt es systematische Massengewalt bis hin zum Mord." Österreich stach schon zuvor negativ hervor. Die Lage sei schon lange vor dem November enthemmt gewesen. Warum?

"Antisemitismus als Mittel der Politik hat in Österreich eine lange Tradition, und er entlädt sich dann in dem Machtvakuum, das nach dem 'Anschluss' entstanden ist", sagt Wenninger. Die sogenannten "Reibpartien", öffentliche Misshandlungen und Demütigungen, aber auch die ganz offene, ungenierte Plünderung jüdischen Eigentums im Herbst 1938 seien nichts Neues. Wenninger: "Das meiste spielt sich in den Städten ab, weil ein Gutteil der illegalen Nazis aus dem kleinbürgerlichen, städtischen Milieu stammt." Das missfällt aber der NSDAP: Gegen wilde Ariseure geht sie brutal vor. "Sie will den Raub des jüdischen Eigentums selbst organisieren", ergänzt Rathkolb. "Die Neuerung in Österreich besteht also vor allem darin, dass Terror und Zerstörung nun flächendeckend sind: Jetzt verwüsten SA-Trupps auch die jüdischen Wochenendhäuser am Wörthersee und terrorisieren Menschen selbst auf dem flachen Land", beschreibt Wenninger die Ereignisse der Novemberpogrome.

Als Reichskristallnacht verharmlost

Lange werden die Ausschreitungen als "Reichskristallnacht" verharmlost – ein Begriff, den die Nationalsozialisten selbst verwendeten. Erst in den vergangenen zwanzig Jahren setzten sich der Begriff Novemberpogrom und der 9. November als Erinnerungstag durch. Das offizielle Österreich gedenkt am Freitagvormittag im Parlament, zuvor legt Bundespräsident Alexander Van der Bellen beim Shoah-Mahnmal auf dem Judenplatz einen Kranz nieder.

Auch wenn die Art der Staatsakte gleich bleibt, hat sich das Gedenken grundsätzlich geändert, ist Thomas Thiemeyer überzeugt. Jede Generation finde ihre eigene Form der Erinnerung. Zudem habe die sogenannte Universalisierung des Holocaust um das Jahr 2000 herum die Bezugsrahmen verändert: "Der Holocaust wird nicht nur als deutsch-jüdische Katastrophe verstanden, sondern er dient als moralischer Maßstab, an dem heute alle möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemessen werden", sagt der Direktor des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. In Deutschland sei der Holocaust nach wie vor das wichtigste erinnerungspolitische Thema. "Aber", sagt der Forscher, "das Wissen über die historischen Ereignisse scheint zurückzugehen, insbesondere was die eigene Familiengeschichte betrifft." Dazu mag beigetragen haben, dass in vielen Schulen das Thema weniger Raum einnimmt als früher.

"Klarer, unverrückbarer Zugang"

Wie die Zukunft der Erinnerungskultur aussehen wird? "Das Gedenken wird sich weiter individualisieren", wagt Thiemeyer eine Prognose. Auch die Zielgruppen werden immer diverser: "Eine Gedenkstätte muss einer Reisegruppe aus Israel den Nationalsozialismus und den Holocaust anders erklären als einer Schulklasse aus Niederösterreich oder Geflüchteten aus Syrien."

Der Zeithistoriker Rathkolb spricht sich für einen breiten Zugang aus: "Es geht um Menschenrechte und die Aufarbeitung eines Genozids. Das ist ein klarer, unverrückbarer Zugang zur politischen Kultur. Wird dieser Bezug über die eigene Geschichte hergestellt, kann auch die Erinnerungskultur weitergeführt werden."

Eine wichtige Zäsur sei der Abschied der Zeitzeugen. "Ohne sie fehlen die persönlichen Erlebnisgeschichten, die das Gedenken bislang so eindrücklich und auch emotional nachvollziehbar machten", sagt Thiemeyer. Deshalb würden die historischen Orte, etwa die ehemaligen Konzentrationslager, eine solch wichtige Rolle spielen, denn: "Sie bedienen das Bedürfnis nach Nähe zur Geschichte." (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, 9.11.2018)