Johann Wolfgang von Goethe auf einem Gemälde aus dem Jahr 1828. Der Dichter und Naturforscher widmete sich vielen Phänomenen – auch den Farben.

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Diesen aquarellierten Farbenkreis fertigte Goethe im Jahr 1809 an. Seine Erkenntnis, "dass die Newtonische Lehre falsch sei", war allerdings ein großer Irrtum.

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"Mehr Licht!" soll Johann Wolfgang von Goethe gesagt haben, kurz bevor er am 22. März 1832 an einem Herzinfarkt starb. Vielleicht wollte er ein letztes Mal poetisch sein. Vielleicht wollte er einfach nur, dass die Vorhänge vor dem Fenster aufgezogen werden.

Vielleicht hat er sich aber auch in seinen letzten Momenten an das erinnert, was er als seine größte Lebensleistung ansah. Und was waren nicht seine Bücher, Dramen und Gedichte, wie er selbst sagt: "Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute."

Umtriebiger Literat

Goethe, der große Dichter, war also fest davon überzeugt, auch ein großer Naturwissenschafter zu sein. Er hielt sich für den "Einzigen", der verstanden hatte, wie Farben funktionieren. Genau das erklärte er in seiner 1810 veröffentlichten Schrift "Zur Farbenlehre".

Als Minister des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach war Goethe unter anderem für den Berg- und Ackerbau und die Forstwirtschaft zuständig. Das weckte sein Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen, mit denen er sich ab 1780 beschäftigte. Er sammelte Mineralien, von denen er bis zu seinem Tod fast 18.000 Exemplare zusammen trug. Er betrieb Botanik, Geologie, verfolgte die chemische Forschung und untersuchte menschliche Knochen. Vor allem aber beschäftigten ihn die Farben.

Seine Farbenlehre hielt Goethe für sein naturwissenschaftliches Hauptwerk. Inspiriert durch Beobachtungen von Licht, Schatten und Farben in der Natur, die Goethe auf seinen vielen Reisen machte, griff er die Arbeit von Isaac Newton an. Der englische Forscher hatte schon im 17. Jahrhundert erklärt und experimentell demonstriert, dass weißes Licht aus verschiedenen Farben zusammengesetzt ist. Diese Farben lassen sich durch ein Prisma trennen und auch wieder zu weißem Licht zusammenführen.

Newtons Prisma

Newton hatte sein bahnbrechendes Experiment in einem komplett abgedunkelten Raum durchgeführt. Sonnenlicht fiel nur durch ein kleines Loch in einer Wand auf ein Prisma, der dahinter entstehende Regenbogen aus farbigen Licht war gut zu sehen. Goethe dagegen ging anders vor, wie er in seiner Farbenlehre schrieb: "Eben befand ich mich in einem völlig geweißten Zimmer; ich erwartete, als ich das Prisma vor die Augen nahm, eingedenk der Newtonischen Theorie, die ganze weiße Wand nach verschiedenen Stufen gefärbt, das von da ins Auge zurückkehrende Licht in so viel farbige Lichter zersplittert zu sehen."

Aber natürlich sah Goethe nichts. Die weiße Wand war eine ausgedehnte Lichtquelle. Das Prima zerlegte das Licht zwar in einzelne Farben, aber da hier viele Lichtstrahlen in das Prisma fallen, überlagerten sich die ebenso vielen farbigen Einzelstrahlen wieder zu weißem Licht. Nur an Kanten oder ähnlichen Bereichen der Wand, wo keine komplett flächige Lichtquelle vorlag, waren Regenbogenfarben zu sehen.

Goethe aber hielt sein Experiment für einen Erfolg: "Es bedurfte keiner langen Überlegung, so erkannte ich, dass eine Grenze notwendig sei, um Farben hervorzubringen, und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, dass die Newtonische Lehre falsch sei."

Ablehnende Zeitgenossen

Johann Wolfgang von Goethe war also überzeugt, die optische Forschung von Newton widerlegt zu haben. Licht sei eine Einheit; Helligkeit, also weißes Licht, könne nicht durch Dunkles, also aus Farben zusammengesetzt sein. Licht und Dunkelheit waren für Goethe gleichberechtigte Phänomene und beide ebenso gleichberechtigt für die Entstehung von Farben nötig und verantwortlich. Sie würden durch das Zusammenwirken von Licht und Finsternis bei der Vermittlung eines "trüben Mediums" entstehen.

Die meisten Wissenschafter der damaligen Zeit lehnten die Goethe'sche Farbenlehre allerdings ab. Hermann von Helmholtz bezeichnete sie etwa als "den Versuch, die unmittelbare Wahrheit des sinnlichen Eindrucks gegen die Angriffe der Wissenschaft zu retten." Aus heutiger Sicht wissen wir, dass Goethe zwar ein paar interessante Gedanken zur Psychologie der Farbwahrnehmung hatte. Aber seine physikalische Beschreibung des Lichts und der Farben und ihrer Entstehung ist schlicht und einfach falsch.

Selbstbewusst verschätzt

Goethes Irrtum bestand nicht nur in fehlerhaften Experimenten und falscher Interpretation der Ergebnisse. Er lag vor allem in einer falschen Einschätzung seiner eigenen Fähigkeiten. Johann Wolfgang von Goethe war unzweifelhaft ein umfassend gebildeter Mensch und einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter. Aber nur weil man in einem Bereich überragende Fähigkeiten besitzt, folgt daraus keine universelle Begabung für alle Disziplinen.

Das ist ein Verhalten, dem man in der Wissenschaft (aber nicht nur dort) immer wieder begegnen kann. Etwa beim Nobelpreisträger Ivar Giaever, der immer wieder gern in der Öffentlichkeit erklärt, dass der Klimawandel kein Problem und das menschengemachte CO2 nicht dafür verantwortlich sei.

Giaever ist allerdings kein Experte für Klimawissenschaft, sondern Physiker, und seine "Erkenntnisse" über den Klimawandel entstammen dem Selbststudium im Internet. Auch wenn Giaever ein Genie sein mag, was die Quantenmechanik angeht – was die Klimaforschung betrifft, ist er a priori nicht besser qualifiziert als jeder andere Laie.

Die Grenzen der eigenen Kompetenz

Eine Ausbildung zum Ingenieur macht einen auch nicht zwingend zum Experten für die Relativitätstheorie oder die Kosmologie. Trotzdem erhalte ich regelmäßig Post von (meist pensionierten) Ingenieuren, die mir im Detail erklären wollen, dass sie Einsteins Erkenntnisse oder die Urknalltheorie widerlegt haben.

Goethe war zwar ein naturwissenschaftlich informierter und interessierter Mensch, aber studiert hatte er Jus und nicht Physik. Er war kein ausgebildeter Naturwissenschafter, und seine Forschung war fehlerhaft.

Es ist erschreckend leicht, dem Goethe'schen Irrtum zu verfallen. Wenn man es gewohnt ist, Tag für Tag Experte auf seinem eigenen Gebiet zu sein, dann muss man sich manchmal aktiv daran erinnern, dass man trotzdem nicht überall Bescheid weiß. Aber genau das ist wichtig. Wissenschaft kann nur dann funktionieren, wenn man sich der eigenen Grenzen bewusst ist. Denn nur dann hat man eine Chance, sie zu erweitern. (Florian Freistetter, 6.11.2018)