"Crooks Street. Die Gleise. Die Ebene. B Hill thront in der Mitte, die Stadt um die Hüfte des Hügels gemeißelt." Viel Zeit hat Stanley "Spoon" Jackson nicht in Freiheit verbracht. Den Großteil seines Lebens saß er in verschiedenen Gefängnissen ein, seit er 1977 zu lebenslänglicher Haftstraße verurteilt wurde – ohne Aussicht auf Begnadigung. Es war kein vorsätzlicher Mord, aber er, der Schwarze aus Barstow, Kalifornien, tötete im Zuge einer Auseinandersetzung einen Weißen. Dann begann Jackson in der Zelle zu schreiben: über sich, die Welt, das Leben – und seine Jugend.

Nun ist der deutsche Dokumentarist Rainer Komers nach Barstow gereist. Es ist ein Film in Rot und Blau geworden – rot wie die Berge der Mojavewüste, blau wie der Himmel, der sich über sie erstreckt. Barstow liegt an der legendären Route 66, die bekanntlich nur noch von ihrem Ruf lebt. Für die an ihr aufgefädelten Orte fällt nicht mehr viel ab. Von chemischer Verwitterung spricht die Wissenschaftlerin, die mit ihren Studenten in den Bergen unterwegs ist, wenn sie Komers die rötliche Farbe des Gesteins erklärt.

Dabei muss man sofort an eine andere Form der Verwitterung denken: an jene, die der Geschichte der Stadt zusetzt. Während Komers als sein eigener Kameramann die Gegend erkundet, hört man aus dem Off wiederholt Zeilen aus Jacksons Aufzeichnungen seiner Kindheit. Wie sein Vater nach Kalifornien floh und seine Mutter aus Arkansas hierherkam, von den vielen Geschwistern und wie familiäre Gewalt den Alltag prägte. Wie es sich anfühlen muss, wenn die Haut unter den Schlägen aufplatzt. Und was das aus einem Menschen macht. Die zwei Attraktionen von Barstow sind übrigens ein Militärcamp, in dem man sich auch als Besucher am Maschinengewehr versuchen kann, sowie eine Silbermine, durch deren Stollen man als Tourist gelenkt wird.

Trailer zu "Barstow, California"
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Bereits als er in den 80er-Jahren noch in San Quentin einsaß, nahm Jackson an einem vierjährigen Workshop für kreatives Schreiben teil. Mittlerweile ist er als Autor bekannt, erhielt mehrere Auszeichnungen und veröffentlichte er seine Autobiografie By Heart. Auch das Kino nahm bereits mit dem Kurzfilm Three Poems by Spoon Jackson und dem Langdokumentarfilm At Night I Fly von ihm Notiz. Rainer Komers verwendet die Gedichte und Erinnerungen Jacksons indes für ein Porträt von Jacksons Heimatstadt, in der dieser sich nie zuhause fühlen konnte.

Die Wahrheit spüren

Komers, der Gedichte und Prosa von Jackson übersetzt hat – vergangenes Jahr erschien der Band Felsentauben erwachen auf Zellenblock 8 – spricht mit Einheimischen, den immer noch in der Stadt ansässigen Verwandten, er sucht nach Spuren der Vergangenheit in der Wüste und lässt die Eisenbahn an sich vorbeirattern. "Einzelne gab's, die nicht merkten, dass die Welt jenseits der purpurnen Lehmberge auf einem schnelleren Gleis fuhr", hört man Jackson, und man die Wahrheit, die in diesen Zeilen steckt, förmlich spüren.

Wenn die Erinnerung Jacksons an Barstow nur noch "by heart" möglich ist, stellt Komers ihr die Gegenwart zur Seite. Barstow, California ist aber auch ein Abschluss, denn damit vollendet Komers nach Nome Road System und Milltown, Montana seine American West-Trilogie. Es sind Ansichten Amerikas, die sich wunderbar mit den ebenfalls bei der Viennale gezeigten Arbeiten von Roberto Minervini, vor allem aber Frederick Wisemans jüngster Studie Monrovia, Indiana zusammendenken lassen. Erzählungen über Ort und Menschen, über die man nicht nur gerne hinwegfliegt, sondern auch hinwegsieht.