Eine Stadt, die in internationalen Rankings regelmäßig auf Platz eins bezüglich der Lebensqualität, zuletzt sogar im "Economist", aber auch in Sachen Unfreundlichkeit ihrer Bewohner landet, wirft Fragen auf.

In diesem Blog schreibt Colette M. Schmidt über den angeblichen Wiener Charme, das goldene Wiener Herz und andere Wiener Legenden und Phänomene.

Foto: Standard/Köck

Colette M. Schmidt wurde in Kanada geboren, wuchs in Graz auf, wo sie 23 Jahre für den STANDARD schrieb. Seit Juli 2017 lebt sie in Wien und arbeitet als Redakteurin im Chronikressort des STANDARD.

Foto: Matthias Cremer

"Der Tod, das muss ein Wiener sein", behauptete Georg Kreisler einmal in einem Lied. Letzte Woche starben zwei Männer in Wien. Natürlich nicht nur diese zwei Männer. Am Mittwoch bekam ich, bevor der Tag noch in die Gänge kommen konnte, als er noch die Luft anhielt, einen Anruf von Rudis Frau. Er sei in den frühen Morgenstunden gegangen. Man hatte es erwartet. Rudi war ein alter, unerschrockener Kämpfer, der zu viel vom Tod im Leben sehen musste – schon als Kind. Er hatte die Nazis überlebt, um vor ihnen zu warnen. Ein Leben lang.

Am nächsten Tag wurde er begraben. In Wien kann man mit der Straßenbahn oder dem Bus zum Tod fahren. In der Bim kann man die Tore mitzählen, eins, zwei, drei, vier. Hunderte Steine wurden auf sein Grab gelegt. Gegen Ende der Zeremonie ging das Licht zwischen den hohen alten Bäumen und den dunklen Wolken aus.

Kapitän Jure

Am Samstag zu Mittag bekam ich die Nachricht von einer lieben Freundin, dass ihr Papa gegangen sei. Jure war auch ein Kämpfer. Er war mit seiner Familie aus dem Jugoslawien-Krieg nach Wien geflohen. Ein starker, stolzer Mann, der seiner Tochter diese Stärke dagelassen hat. Jure hatte einen Traum, bevor er starb. Er bekam einen Anruf, man sagte ihm, dass ein Pilot ausgefallen sei und er eine schöne Kapitänsuniform anziehen und 70 Passagiere fliegen müsse. Jure zögerte nicht und flog tapfer seiner elenden Krankheit davon. Ich stelle mir vor, dass er dabei noch eine elegante Schleife durch den blauen Himmel zog oder zwei, drei, vier Loopings.

Ob der Tod ein Wiener ist? Vielleicht. Er spricht wie diese Stadt alle Sprachen, er kommt aber nicht charmanter und nicht makaberer daher als sonst wo auf der Welt. Er wartet still ab und lässt sich nicht anmerken, wann er zuschlägt, und verhandelt nicht.

Eins, zwei, drei, vier ...

Er schaut einem über die Schulter und zählt mit, eins, zwei, drei, vier – während andere ermordet werden und er einen leben lässt – derweil. Er steht neben einem, während Ärzte sagen, da sei nichts, man habe nichts, wie bei Jure – und beginnt derweil mit der Ruhe eines routinierten Wiener Handwerkers mit der Demontage des Lebens in jeder Zelle. Des homma glei, sagt er wahrscheinlich freundlich, während er sein Werkzeug auspackt.

"Der Tod, das muss ein Wiener sein", sang Kreisler, "nur er trifft den richtigen Ton."

Hoffentlich stimmt das. Hoffentlich flüstert er allen ganz am Ende etwas Tröstliches ins Ohr. Natürlich so leise, dass es sonst niemand hören kann. (Colette M. Schmidt, 31.10.2018)