Auf großer Fläche macht der Maler Luiz Zerbini die erste christliche Messe in Brasilien um 1500 zum Thema.

Foto: Fondation Cartier pour l'art contemporain / Thibaut Voisin; Mural Harbor / Philipp Greindl

Ein Einfamilienhaus von Freddy Mamani in Bolivien.

Foto: Fondation Cartier pour l'art contemporain / Thibaut Voisin; Mural Harbor / Philipp Greindl

Der Kopfschmuck eines Kayapó in Brasilien fotografiert von Miguel Rio Branco.

Foto: Fondation Cartier pour l'art contemporain / Thibaut Voisin; Mural Harbor / Philipp Greindl

Street-Art von Flix in Linz (rechts hinten).

Foto: Fondation Cartier pour l'art contemporain / Thibaut Voisin; Mural Harbor / Philipp Greindl

Auf dem Pariser Boulevard Raspail darf man sich derzeit fühlen wie ein Entdecker der Neuen Welt. Oder sollte es besser heißen: wie ein Neuentdecker der lateinamerikanischen Welt? Die Cartier-Stiftung für zeitgenössische Kunst betreibt in ihrem Museum im Süden von Paris mit der Ausstellung "Geometrie des Südens" gerade einigen Aufwand, um eine vermeintlich gewagte These zu belegen: Das verbindende Element aller lateinamerikanischen Kulturen ist von jeher die Geometrie.

Würde das irgendjemand für Europa behaupten, niemand würde sich wundern. Immerhin hat Johannes Kepler bereits 1610 in einem Brief an Galileo Galilei geschrieben: "Die Geometrie ist einzig und ewig, ein Widerschein aus dem Geiste Gottes." Doch die gut 250 Werke von 70 lateinamerikanischen Künstlern aus 13 Ländern in Paris lassen schon bei der ersten Betrachtung erkennen, dass Geometrie auch im Süden Amerikas, wenn sie schon nichts Gottgegebenes ist, dann zumindest etwas göttlich Schönes hat.

Formal überschwänglich

Dies belegen seltene Exponate präkolumbianischer Künstler, welche die sie umgebende Natur schon vor mehr als 5.000 Jahren auf wenige Linien reduzierten, ebenso wie jene der kubanisch-US-amerikanischen Künstlerin Carmen Herrera. Noch als 103-Jährige erschafft sie Bilder, die zwar an den alten russischen Konstruktivisten Kasimir Malewitsch erinnern, aber unbeeindruckt von der Alten Welt fast täglich frisch in Amerika entstehen.

Da macht es dann auch nichts, wenn Maler wie der Brasilianer Luiz Zerbini formal überschwänglicher sind, immerhin geht es auf seinen riesigen Tableaus um etwas: in dem Bild "A primeira missa" etwa um die erste christliche Messe, die die europäischen Eroberer den Indigenen um 1500 zumuteten. Apropos Indigene: Vor allem sie sind in der Pariser Ausstellung als Künstler präsent. Und einige von ihnen erzählten uns sogar, woran sie in ihren Ländern momentan arbeiten.

Freddy Mamani, Bolivien

Der bolivianische Ingenieur und Maurer Freddy Mamani sagt selbstbewusst: "Ich habe die neoandine Architektur ins Leben gerufen." Das mag die Akademiker unter den Architekten provozieren, weil sie zu Recht einwerfen, dass es zuvor nicht einmal eine einheitliche Anden-Architektur gab. Aber der Erfolg gibt Mamani recht. Innerhalb weniger Jahre hat der autodidaktische Architekt 60 fantastische Einfamilienhäuser in El Alto, der zweitgrößten Stadt Boliviens, aus dem Boden gestampft.

Seine Gebäude sind komplett modular in Form und Funktion konzipiert, sodass sich hinter der quietschbunten Fassade schon einmal ein üppig dekorierter Ballsaal im Erdgeschoß verbirgt, im Stock darüber vielleicht ein Indoorfußballplatz und erst in den oberen Stockwerken Wohnraum. "Weil wir Aymara anders als ihr Europäer oft zu Hause bleiben und nicht ständig herumtingeln können", wie Mamani erklärt. Doch nicht nur den reichen Aymara (ein indigenes Volk Südamerikas, zu dem sich auch Mamani zählt), die sich ein solches Haus überhaupt leisten können, gefällt sein Stil. Er greift Formen auf, die von allen Aymara erkannt und geschätzt werden: stilisierte Schlangen oder Kondore etwa.

Daran, dass es von seinen stilprägenden "Ballräumen mit Schlafgelegenheit" in El Alto schon mehr Fakes als Originale gibt, stößt sich Mamani nicht: "Kopiertwerden heißt gefallen", sagt er über sein Werk. Bis zu zehn Jahre Bauzeit sind bei seinen Objekten keine Seltenheit, "weshalb ich für meine Familie etwas Einfacheres aufgezogen habe". Würde er selbst in einer "neoandinen" Villa wohnen, hätte sie unten eine Shoppingmall und ein Kulturzentrum, darüber einen Tennisplatz und so viele Zimmer wie ein Hotel.

Flix, Venezuela

Der Venezolaner Rafael Fernandez alias Flix hat Architektur studiert, geht mit seiner Kunst heute aber lieber auf die Straße. Als 13-, 14- Jähriger ist er durch Caracas flaniert, um in der grauen, uniformen Stadt "optisch hervorstechende Formen aufzusaugen", wie er sagt. Seither ist er in Caracas und anderswo (unter anderem auch in Linz) mit dem Ziel unterwegs, Städten neues Leben einzuhauchen.

"Ich suche mir Objekte aus, die von den Bewohnern einer Stadt vergessen wurden, und hebe sie wieder hervor", sagt er. Aus den grauen kastenförmigen Hydranten in Caracas macht er etwa bunte Figuren, die an Roboter erinnern und auf bekannte lateinamerikanische Muster zurückgreifen. "Das können aztekische Symboliken sein, aber auch viele andere, da Venezuela ein sehr multiethnisches Land ist", erklärt Flix. Sein Großvater hat ihn regelmäßig mit Ideen für geometrische Konzepte versorgt: "Er sammelte gern Kunsthandwerk aus Bolivien, etwa Stoffe oder Amulette."

Wenn Flix heute graue Fassaden, verrostete Kanaldeckel oder liegengebliebene Betonrohre zu optischen Stoppern für Passanten macht, geht er den offiziellen Weg der Genehmigung. Seine grüne Maske, die er früher zur Verschleierung getragen hat, besitzt er aber noch immer: "Ich habe sie zufällig in einem Gemischtwarenladen gefunden und sofort gekauft. Die Farbe Grün steht für die Gesundung, die ich einer Stadt wie Caracas wünsche."

Marie Perennes, Brasilien

Für einige Künstler aus Brasilien, die uralte Techniken der Körperbemalung beherrschen, muss Marie Perennes, eine Ko-Kuratorin der Pariser Ausstellung, stellvertretend sprechen. Etwa für die Kayapó, ein indigenes Amazonasvolk, dessen Überleben akut durch Bergbau- und Wasserkraftgesellschaften bedroht ist. "Die Kayapó beherrschen seit Urzeiten die Abstraktion komplexer Formen aus der Natur und übertragen sie auf den Körper – etwa stilisierte Vögel aus dem Regenwald auf Kopfhaut und Haar", weiß Perennes. Der brasilianische Fotograf Miguel Rio Branco hat unzählige ihrer Tattoos dokumentiert.

Eine ähnliche Abstraktionsleistung vollbringen die Wauja. Nur noch weniger als 500 Mitglieder dieses Volks leben noch am Fluss Xingu im östlichen Amazonasgebiet. Von ihnen sind in der Pariser Ausstellung Transkriptionen der Tattoos auf Papier erhalten, denen nun eine besondere Bedeutung zukommt: Der Großteil dieser unwiederbringlichen Kunstwerke wurde beim Brand des Nationalmuseums in Rio de Janeiro in diesem September zerstört. (Sascha Aumüller, RONDO, 25.10.2018)