Jaime Roncancio wird von allen im Viertel nur "El Calabazo" genannt, der Kürbis. Sein Lächeln gleiche einem Halloween-Kürbis, erzählt der ehemalige Bandenchef.

Foto: Lukas Rapp

Jaime Roncancio blickt aus dem Fenster seines behelfsmäßig zusammengeschusterten Hauses, das auf einem Berghang über den Dächern der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá thront. Sein siebenjähriger Sohn sitzt auf seinem Schoß. Seit zwei Jahren ist Roncancio wieder zu Hause, davor saß er wegen Mordes sechs Jahre lang im Gefängnis. Er war Bandenführer von "Los Pilos", einer bewaffneten Gruppe des Viertels Egipto, keine 20 Minuten Fußmarsch vom Touristenhotspot La Candelaria entfernt.

Dennoch verirren sich nur wenige Touristen hierher. Überfälle waren früher keine Seltenheit, das Image hat sich bis heute gehalten. "Wir können zwar kein Englisch, aber eine Pistole hat gereicht. Da wussten die Leute, dass wir ihr Geld wollen", sagt Roncancio. Kriminalität und Bandenkult blühten. Sie trugen teure Sneaker, hörten auf dem kleinen Hauptplatz laut Musik und prahlten mit ihren Waffen. Jobchancen gab es kaum, und so lag es für viele Jugendliche nahe, sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen.

"Außergewöhnliche Zeit"

Heute ist das anders. "Kolumbien erlebt gerade eine ganz außergewöhnliche Zeit – das vergessen wir oft, weil wir so nah an den Ereignissen dran sind und nur sehen, was falsch läuft", sagt Andrés Bermudez, ein Journalist, der sich mit der Implementierung des Friedensvertrags beschäftigt.

Eines der Positivbeispiele ist Egipto. Als Roncancio aus dem Gefängnis entlassen wurde, beschloss er mit einem weiteren Bandenmitglied, Andrés Saavedra, dass sich etwas im Viertel ändern müsse. Daraus entstand die Touristenführung "Breaking Borders" – die Einnahmen fließen in Sozialprojekte. Zudem brachte der Austausch mit Touristen neue Perspektiven. "Es ist schön, wie sich die Zukunftspläne der Kinder verändert haben. Jetzt wollen sie nicht mehr in eine Bande, sondern Touristenführer werden", sagt Saavedra, als er sich neben den Fußballplatz des Viertels setzt.

Fußballspiel zwischen Feinden

Hier veranstalten die frischgebackenen Führer jeden Sonntag ein Fußballspiel mit den Kindern der Nachbarschaft. Auch Kinder, deren Familien zu rivalisierenden Gangs gehören, werden eingeladen. "Sie haben sieben meiner Verwandten getötet, wir haben viele von ihnen umgebracht. Wir Erwachsenen halten also Abstand, aber unsere Kinder spielen zusammen. Sie sollen eine bessere Zukunft haben", sagt Roncancio, den hier alle "El Calabazo" nennen, den Kürbis. Sein Lächeln gleiche einem Halloween-Kürbis, erzählt er und grinst zur Demonstration breit.

Und tatsächlich geht es für Egipto bergauf. Während etwa zwischen 1990 und 2004 im Zuge der Bandenkriege rund 1.400 Personen in dem kleinen Stadtteil ermordet worden sind, wie aus Daten der Universität Externado hervorgeht, liegt die Zahl in den vergangenen Jahren nahezu bei null. Schießereien gebe es in ihren Straßen keine mehr, sagt El Calabazo. Die Gruppe der Touristenführer ist auf 25 gewachsen, alles ehemals Bandenmitglieder.

Zugänglicher Regenwald

"Tourismus kann eine wichtige und vor allem auch sehr schnelle Transformation einer Gemeinschaft bedeuten", sagt Bermudez. Dieser bringe Einkünfte, schaffe neue Jobs und könne außerdem bei der Aufarbeitung eines Konflikts helfen. Das sei wichtig, denn der Friedensprozess müsse weiter gestärkt werden. Zusammen mit Impulse Travel, der Agentur, die auch "Breaking Borders" anbietet, entwickelt Bermudez auch eine Tour durch Shops in Bogotá, die von Opfern des Konflikts geführt werden.

Neben derartigen städtischen Touren haben sich mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags auch viele jener Regionen geöffnet, die wegen des Konflikts lange unerschlossen waren. "Die Öffnung ländlicher Gebiete bringt aber auch Herausforderungen", sagt Bermudez. Etwa zählt der Teil des Amazonas im südlichen Kolumbien zu den besterhaltenen Teilen des Regenwaldes – in den vergangenen Jahrzehnten war es unmöglich, in das Gebiet vorzudringen. Die Farc kontrollierte die Region. Nun gilt es, die Biodiversität dort weiter zu schützen. Etwa in San José de Guaviare, wo César Arredondo mit seinem Unternehmen Biodiversity Travel Besuchern die vielfältige Vogelpopulation zeigt.

Kampf gegen Gewaltkultur

So hat die Tourismusbranche im ganzen Land stark zugelegt. Allein im Juni war die Zahl der Touristen um 26,9 Prozent höher als im selben Monat des Vorjahrs. 2017 machte der Tourismus insgesamt 5,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, rund 1,3 Millionen Jobs werden von der Branche unterstützt.

Wichtig sei dabei, dass die Besucher verstünden, wofür das Land gerade kämpfe, sagt Laura Baron-Mendoza, Anwältin für Völkerrecht und Menschenrechte. Nämlich die Kultur der Gewalt zu überwinden. "Hinter Serien wie Narcos liegt ein fragmentiertes Land, das weiterhin den Preis für die Gewalt zahlt, die durch den Drogenhandel angeheizt wird", sagt sie. (Alicia Prager aus Bogotá, 23.10.2018)