Die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen wird von Experten zerpflückt. Das Prestigeprojekt der türkis-blauen Regierung wird selbst vom Verfassungsdienst des Justziministeriums als verfassungswidrig angesehen.

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Wien – Die türkis-blaue Regierung hat es eilig. Am Freitag endete die Begutachtungsfrist für das Sozialversicherungsgesetz. Zentrales Anliegen ist die Fusion der neun Gebietskrankenkassen zu einer, der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Am Mittwoch soll die Materie den Ministerrat passieren, in den Plenarsitzungen am 12. und 13. Dezember soll das Paket beschlossen werden. Erste Änderungen sollen bereits am 1. Jänner in Kraft treten.

Hauptverband und Gebietskrankenkassen haben keine Freude mit den Regierungsplänen und stützen sich dabei auf Gutachten prominenter Verfassungsrichter. Aber auch insgesamt fallen die Reaktionen eher verhalten aus, 75 Stellungnahmen zu dem Gesetzesentwurf sind im Parlament eingegangen. Besonders vernichtend fallen die Stellungnahmen von Rechnungshof und Verfassungsdienst aus.

In den vergangenen Tagen habe man an der Sichtung der Stellungnahmen im Begutachtungsverfahren gearbeitet, derzeit würde noch "die eine oder andere Änderung" am Gesetzesentwurf vorgenommen, auch mit Ländervertretern und Sozialpartnern liefen weitere Gespräche, sagte ÖVP-Klubchef August Wöginger. "Wir arbeiten mit Hochdruck daran, damit wir ein Gesetz vorlegen, das verfassungskonform ist und auch das abbildet, was wir in der Koalition vereinbart haben", sagte Wöginger. Vor allem bei den verfassungsrechtlichen Fragen der Sozialversicherungsreform gelte es "ganz ganz sorgsam" zu sein. "Da gehen wir jedenfalls auf die sichere Seite."

Die heiklen Punkte im Überblick.

  • Mehr Einfluss für Ministerien: Laut türkis-blauem Entwurf erhält das Sozialministerium ein Weisungsrecht für den Dachverband, der künftig den Hauptverband der Sozialversicherungsträger ersetzen soll. Hier sieht der Verfassungsdienst des Justizministeriums einen Eingriff in die Selbstverwaltung. Als Selbstverwaltungskörper hätte dieser das "Recht, Aufgaben in eigener Verantwortung frei von Weisungen zu besorgen". Geplant ist, dass sowohl Sozial- als auch Finanzressort mehr Aufsichtsrechte und Entscheidungsbefugnisse erhalten. Auch der Verfassungsexperte Theo Öhlinger wertet die Ausweitung der Befugnisse als "eindeutig verfassungswidrig". Denn das "Aufsichtsrecht über alle wichtigen Fragen" sei nicht näher definiert.

  • Paritätische Besetzung des Verwaltungsrats der ÖGK: Die Gebietskrankenkassen gelten als Versicherung der Dienstnehmer, dort sind die unselbstständig Tätigen versichert. Bei der Fusion der Gebietskrankenkassen wird als oberstes Gremium der Verwaltungsrat geschaffen, dort sollen nach Regierungsplänen sechs Dienstgeber und sechs Dienstnehmer ein Mandat erhalten.

    Für den ehemaligen Verfassungsrichter Rudolf Müller, der im Auftrag der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse ein Gutachten erstellt hat, ist dieses Vorhaben verfassungswidrig. Bisher sind die Dienstgeber laut Gesetz zu einem Fünftel in den geschäftsführenden Organen der Selbstverwaltung vertreten, wodurch sie bereits überrepräsentiert seien. Das sei aber durch die gemeinsame Verantwortung von Dienstgebern und -nehmern noch zu argumentieren.

    Auch nach einer Reform müsse es bei einem "schwachen Einfluss" der Arbeitgeber bleiben. Durch den Überhang von Dienstnehmervertretern war in der Vergangenheit sichergestellt, dass die Gesundheitsversorgung von ihnen selbst mitgestaltet werden kann. Aber genau diese Zielsetzung gerät laut Müllers Gutachten ins Hintertreffen.

    In einem paritätisch besetzten Organ könne kein Beschluss gegen die Stimmen der Dienstgeber wirksam zustande kommen. Er befürchtet, dass die Interessen der Arbeitgeber mehr Gewicht bekommen, was sich etwa bei der Einführung von Selbstbehalten ausdrücken könnte oder auch in der Zielsetzung, die Zahl der Krankenstände zu senken. Fazit des Verfassungsjuristen Müller: "Es ist ein Wahnsinn, noch nie hat jemand versucht, ganze Bevölkerungsgruppen auszuschließen."

    Außerdem kritisiert er die Voraussetzungen dafür, wie die neuen Gremien beschickt werden sollen. Bereits aktive Funktionäre dürfen im Überleitungsgremium, das am 1. April 2019 seine Arbeit aufnimmt, nicht vertreten sein. Künftige Funktionäre müssten Juristen oder Wirtschaftswissenschafter sein oder Erfahrungen als Geschäftsführer vorweisen. Haben sie das nicht, müssten sie eine Dienstprüfung ablegen, diese ist aber erst ab dem Jahr 2020 möglich. Für Müller ist damit klar, dass keine Betriebsräte oder Gewerkschafter in den neuen Gremien vertreten sein werden.

  • Beitragsprüfung durch die Finanz: Der Hauptverband untermauert seine Kritik an der Fusion der Gebietskrankenkassen mit einem Gutachten des Salzburger Verfassungsjuristen Walter Berka. Dieser bewertet die geplante Beitragsprüfung durch die Finanz als verfassungswidrig. "Wird die Beitragskontrolle verstaatlicht, ist das ein Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie, die in der Verfassung festgeschrieben ist." Bisher lag die Prüfung der Beiträge bei den Sozialversicherungen. Außerdem sieht Berka einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, da die mit den Bauern fusionierte Kasse der Selbstständigen und die Kasse der Beamten weiterhin Beiträge prüfen dürften. Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) kann die Kritik nicht nachvollziehen, er beruft sich dabei auf Gutachten von Harald Stolzlechner und der Finanzprokuratur. Negative Begutachtungsstellungnahmen sieht er vor allem in der Sorge der Funktionäre begründet, ihren Einfluss zu in den Sozialversicherungen zu verlieren.

  • Kostendarstellung: Auch der Rechnungshof äußerte scharfe Kritik an der geplanten Reform. Insbesondere die Darstellung der Kosten ist nach Ansicht der Prüfer ungenügend. "Es fehlen transparente und nachvollziehbare Berechnungsgrundlagen", heißt es in der Begutachtungsstellungnahme. Außerdem würden in dem Entwurf die Fusionskosten nicht bewertet werden. "Problematisch" ist für den RH auch die geplante Abschaffung der Kontrollversammlung in den Trägern. Angesichts des hohen Gebarungsvolumens (63,9 Milliarden Euro 2018) "ist ein Kontrollgremium aus der Sicht des RH unbedingt erforderlich". Diese Kritik nimmt Wöginger "prinzipiell ernst", er glaube aber, dass der Rechnungshof die Ziele der Regierung "nicht richtig erkannt" habe. Er gehe davon aus, dass man in den nächsten Jahren bis 2023 zu Einsparungseffekten von rund einer Milliarde Euro kommen werde. "Wir nehmen dieses Geld aber nicht aus dem System heraus, wir lassen es im System, für die Versicherten und Patienten."
    Die von Sozialversicherungsexperten errechneten Mehrkosten von 1,1 Milliarden Euro sind für Wöginger "so nicht nachvollziehbar". Es sei schon klar, dass man der Fusion der Krankenkassen 2019 und 2020 Zeit geben müsse. "Aber dann ist es aus unserer Sicht möglich, erste Einsparungseffekte erzielen zu können – durch ein gemeinsames Management, durch die Reduktion der Rechnungskreise, dadurch dass nach natürlichem Pensionsabgang nicht jede Stelle nachbesetzt wird. Ab 2021 beginnend 200 Millionen, danach 300 Millionen, 2023 dann 500 Millionen. Das ist aus unserer Sicht machbar."(Marie-Theres Egyed, 22.10.2018)