Von Bregenz bis Wien: Fast 3.000 Menschen trafen einander im Rahmen von "Österreich spricht" zum politischen Diskurs unter vier Augen.

Foto: DER STANDARD / Regine Hendrich

Der 13. Oktober 2018 war ein ruhiger Samstag, nachrichtentechnisch zumindest. Die wie erwartet turbulente Bayern-Wahl stand kurz bevor, doch ansonsten tauchte nicht viel Neues auf dem Nachrichtenschirm auf. Und dennoch tat sich an diesem Tag etwas. In ganz Österreich diskutierten und politisierten tausende Menschen miteinander, die einander bis vor kurzem noch fremd gewesen waren. Manche hatten konträre Ansichten, andere waren sich in manchen Punkten einiger, doch alle hatten sie eines gemeinsam: den Wunsch, die Sichtweisen eines Unbekannten kennenzulernen.

Genau 10.000 Personen im Land hatten sich für das STANDARD-Projekt "Österreich spricht" angemeldet. Mithilfe von sieben polarisierenden Fragen, die bei der Registrierung auf STANDARD online zu Themen wie dem Islam, der Regierung, Rauchen oder Gleichstellung gestellt wurden, sollten Menschen zusammengeführt werden, die möglichst unterschiedlicher Meinung sind, aber nahe beieinander wohnen. Final bestätigten 3.000 von ihnen, sich am im Vorfeld festgelegten Datum mit ihrem unbekannten Gegenüber treffen zu wollen.

Das Ziel der Aktion: Menschen aus ihren realen und virtuellen Meinungsblasen herauszuholen und so die Bruchlinien in der Gesellschaft zumindest ein wenig zu überbrücken. Anstatt Parteien oder "Meinungsführern" die politische Debatte zu überlassen oder sich online geschützt durch die Distanz zu kurzen Wortgefechten hinreißen zu lassen, sollten die Teilnehmer die Chance erhalten, ihre Ansichten auf Augenhöhe zu diskutieren.

Über Klimawandel und Integrationsprobleme diskutierten unter anderen Lena und Florian.
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Sprung ins Ungewisse

Für diese mutigen Diskurspioniere war es dabei ebenso ein Sprung ins Ungewisse. Nicht nur für sie, sondern auch für den STANDARD als Organisator. Bereits drei Monate bevor einander Pensionist und Student, Anwältin und Arbeiter, Lehrer und Steuerberaterin per E-Mail zum Polit-Date verabreden konnten, grübelte man in fast allen Abteilungen des Verlags noch darüber, auf wie starkes Echo man mit dem Projekt in Österreich stoßen und wie groß der damit verbundene Aufwand sein würde.

Als Partner der internationalen Initiative "My Country Talks" gab es für den STANDARD einen enormen Startvorteil: Die Software zur Anmeldung, mit der die Teilnehmer auch "gematcht" wurden, war bereits bei anderen Medien in Europa im Einsatz – allen voran in Deutschland, wo die Idee 2017 von Zeit Online geboren und die Plattform ins Leben gerufen wurde.

Trotzdem war es keine gmahde Wiesn, ein "Deutschland spricht" oder "L'Italia si parla" ins Österreichische zu übersetzen. Wortwörtlich: Nicht weniger als 179 Textbausteine mussten allein für die automatisierten E-Mails, das Anmelde- und Feedbackformular in Form gebracht werden.

Die Rechtsabteilung setzte eine eigens benötigte Datenschutzerklärung auf. Die Technik musste prüfen, ob die Anmeldesoftware die Website nicht zum Abstürzen bringt. Das Marketing warb mit speziellen Kampagnen in Fremdmedien für "Österreich spricht". Das Social-Media-Team verfasste Aufrufe zum Mitmachen und "targetete" speziell Nutzer, die ansonsten nichts mit dem STANDARD am Hut haben. Der Kundendienst und das Community-Team wurden auf die letztlich hunderten Rückfragen und Einsendungen vorbereitet. Die Redaktion klopfte im Wochentakt Themenstrecken und Erklärartikel in die Tasten, um die Teilnehmer für die bevorstehende Konfrontation aufzuwärmen.

Im andauernden Austausch mit den dutzenden eingebundenen internen und externen Kollegen über Wünsche, Bedenken und lokale Eigenheiten wurde das Prozedere immer und immer wieder durchgekaut, Texte nochmals umgeschrieben und jene polarisierenden Fragen, die zur Anmeldung beantwortet werden mussten, in Stein gemeißelt. Keine triviale Geschichte: Chefredaktion und Projektleitung tüftelten lange, damit die finalen Fragestellungen für jedermann klar verständlich waren.

Tausende Puzzleteile

Über Wochen wurde Tag und oft auch Nacht daran gearbeitet, "Österreich spricht" aus dem Boden zu stampfen. So viele Hände mussten so viele Puzzleteile zusammensetzen, um dieses Experiment aufzubauen. Immerzu mit dem Gedanken im Hinterkopf, ob man den Erwartungen überhaupt gerecht werden kann. Schon am ersten Tag hatten sich 1.500 Menschen angemeldet. Dann 5.000. Und schließlich 10.000. Zehntausend Menschen. Jede Anmeldung musste manuell gesichtet und freigeschaltet werden, um letztendlich 7.600 von ihnen per Knopfdruck zu "matchen" – mit ein bisschen Code und Zufall.

Als die Matches sortiert nach der Anzahl der unterschiedlich beantworteten Fragen vorlagen, ergaben sich auf den ersten Blick vor allem spannende Statistiken. Im Schnitt lagen die Paare bei drei Fragen auseinander. Zwei Drittel Männer, ein Drittel Frauen. Dafür war das Alter der Teilnehmer ausgeglichener: zu 50 Prozent waren sie jünger als 40 Jahre, der Rest älter. Auf Basis dieser nackten Zahlen musste die Redaktion entscheiden, welche Begegnungen wir journalistisch begleiten wollten. Eine harte Entscheidung, die (wie sich zeigte) der Anzahl an interessanten Begegnungen niemals gerecht werden konnte.

Pia und Ivo könnten politisch nicht viel weiter auseinander sein, schätzten die unterschiedlichen Ansichten ihres Gegenübers jedoch sehr.
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Der große Tag

Und dann kam der Tag, auf den alle hingearbeitet hatten, 13. Oktober, 15 Uhr. Dann gab es keine Algorithmen und Prognosen mehr, nur noch ein gewaltiges Gesprächsrauschen, das sich zu einer Welle der Emotionen, Bilder und Worte auftürmte. Und die Erkenntnis brach herein, dass es so viele Menschen gibt, deren Weltanschauungen auseinandergehen und die dennoch das Gemeinsame suchen.

In Zeiten, in denen oft schwarz und weiß gemalt wird, übersieht man rasch die Schattierungen dazwischen und die darin liegenden Überschneidungen. Grundlegende Bedürfnisse nach sozialer Gerechtigkeit, Wärme, Sicherheit und Frieden sind gesinnungsfrei. Innerhalb weniger Tage erreichten die Redaktion hunderte Zuschriften. Immer wieder das gleiche Feedback: Wir sehen einige Dinge anders, haben vielleicht auch unterschiedlich gewählt, aber sind uns am Ende doch sehr ähnlich.

Dank der vielen Menschen, die das vermeintlich Unverständliche verstehen wollten und wollen, ist "Österreich spricht" nach Monaten der Vorbereitung keine Statistik, keine logistische Hürde, kein Online-Experiment mehr. Sondern Beweis dafür, dass das Vereinende stärker ist als das Trennende. Gerade deshalb muss das Gespräch, der Diskurs, der Streit weitergehen. (Zsolt Wilhelm, 18.10.2018)