Eine Redaktion, die nicht auch streitet, ist keine Redaktion. Spannender, ausgewogener Journalismus kann nur entstehen, wenn intensiv darüber diskutiert wird, was in welcher Form veröffentlicht wird. Wenn Argumente ausgetauscht werden, Für und Wider abgewogen werden. Das gilt einerseits für die Diskussion unter den Journalistinnen und Journalisten und ebenso für den Diskurs mit den Leserinnen und Lesern. Auch im STANDARD wurde im Laufe der 30 Jahre gestritten, manchmal sogar ziemlich heftig. Hier sollen aber nicht die ärgsten Streithanseln (You know who you are!) geoutet werden, sondern exemplarisch Themen beschrieben werden, die unser Nervenkostüm gefordert haben.

Foto: Der Standard

Fallbeispiel 1: Die Debatte über die Nennung der Herkunft von mutmaßlichen Tätern

Was Innenminister Herbert Kickl 2018 von der Polizei mittels einer Anregung gerne generell hätte, wurde im STANDARD schon vor Jahren breit diskutiert. Es geht und ging um die Frage, ob die Herkunft von mutmaßlichen Tätern in Texten genannt werden soll oder nicht. Die redaktionsinterne Debatte entzündete sich im Jänner 2016 an einem Vorfall im Wiener Prater, bei dem ein afghanischer Asylwerber verdächtigt wurde, eine 18-jährige Frau vergewaltigt zu haben. In der Onlineversion wurde die Herkunft genannt, in der Printausgabe nicht. In der Print-Online-Kritik der Redaktion am Tag danach, in welcher wir täglich unser Tun nachbesprechen, zeigte sich, wie schwierig diese Frage zu beantworten war. Es gab die eine Fraktion, die sich für die Herkunftsnennung aussprach, genauso stark war aber die Gegenmeinung, die dagegen argumentierte. Im Anschluss an das per Mail an die gesamte Redaktion verschickte Protokoll entspann sich eine Debatte, an der sich viele beteiligten.

Chronikredakteurin Irene Brickner sprach sich dabei tendenziell gegen die Herkunftsnennung aus. Sie meinte: "Da ich einen Hintergrundartikel für die kommenden Tage zu dem Thema recherchiere, habe ich gerade den Publizistikprofessor Fritz Hausjell angerufen. Dieser meint, die ethnische Nennung wäre nach Köln in Zusammenhang mit Gruppenübergriffen okay, nicht aber, wenn es sich um eine einzelne Vergewaltigung handelt. In letzterem Fall würden die journalistischen Ethikregeln, die besagen, dass die ethnische Zuordnung zulässig ist, wenn sie zum Verständnis der Meldung unabdingbar ist, nicht greifen – im Fall von Vorkommnissen wie in Köln hingegen schon."

Asylstatus nennen

Auch die Frage, ob der Asylstatus genannt werden soll, wurde im Rahmen der Diskussion besprochen. "Ich finde, es ist völlig irrelevant, ob ein Vergewaltiger ein Flüchtling ist. Es vergewaltigt doch niemand irgendwen anderen, weil er vorher geflüchtet ist oder vielleicht irgendwann mal flüchten wird! Das ist doch absurd. Eine bestimmte Gewaltbereitschaft kann aber etwas mit der Gesellschaft zu tun haben, aus der Leute kommen, mit den gesellschaftlichen Umständen oder mit Geschlechterfragen, mit sexueller Identität. Insofern fände ich es – wenn überhaupt – relevant, aus welcher Gesellschaft jemand kommt, wie er sozialisiert wurde – aber sicher nicht, ob er Flüchtling oder Asylwerber ist", antwortete unsere Korrespondentin für die Balkanländer, Adelheid Wölfl, auf die E-Mail-Debatte.

Eric Frey, damals Chef vom Dienst, schrieb: "Das meiner Meinung nach relevante Faktum nach einer Sexualstraftat in Österreich ist heute weniger, ob es sich um einen Asylwerber handelt oder nicht, und letztlich auch nicht die Religion, aber sehr wohl das Herkunftsland. Man hört praktisch nichts von Übergriffen durch Syrer, sei es in Deutschland oder in Österreich, sehr wohl aber von Nordafrikanern (Köln) und in Österreich vor allem von Afghanen. Man muss nur mit jenen Menschen sprechen, die in bester Absicht mit Flüchtlingen und vor allem mit unbegleiteten Minderjährigen arbeiten und im Falle der Afghanen in kurzer Zeit völlig desillusioniert sind. Wir haben durch die hohe Zahl junger männlicher Afghanen in Österreich ein ganz besonderes Problem einer Gruppe, die in einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft mit archaischen Wertvorstellungen aufgewachsen ist und in einem westeuropäischen Land kaum integrierbar ist. Dieses schwierige Thema müssten wir journalistisch dringend behandeln. Wenn wir das täten, dann wäre es auch nicht mehr so wichtig, ob wir im Einzelfall die Herkunft erwähnen."

Entscheidung im Einzelfall

Die Frage nach der Nennung der Herkunft beschäftigte nicht nur uns, sondern auch die Leserinnen und Leser des STANDARD. In den Foren wurde heftig diskutiert, es wurde uns Zensur vorgeworfen, wenn wir die Herkunft nicht nannten, und Rassismus, wenn wir es taten. Wir entschieden uns dazu, Vertreter von Presserat, Polizei und der Austria Presse-Agentur einzuladen, um weitere Anhaltspunkte zu finden, wie wir am besten vorgehen könnten. Wir entschieden uns auch, die interne Maildebatte zu veröffentlichen, um "die Leser in die Lage zu versetzen, die Welt besser zu verstehen", wie es Brüssel-Korrespondent Thomas Mayer formulierte.

Wir entscheiden seitdem im Einzelfall, ob wir die Herkunft nennen oder nicht. Entgegen der aktuellen Anregung aus dem Innenministerium, dies generell bei allen Fällen zu tun, wägen wir von Fall zu Fall ab und nennen das Herkunftsland dann, wenn es für das Verständnis des Falles wichtig ist. Sonst nicht. Diese Debatte ist nach wie vor nicht einfach, sie ist aber wichtig, weil wir Journalismus machen wollen, der mit seiner Sprache verantwortungsvoll umgeht.

Foto: Der Standard

Fallbeispiel 2: Die Debatte über einen Kommentar der anderen im Rahmen von #MeToo

Wie stark sich die #MeToo-Bewegung auf die öffentliche Debatte ausgewirkt hat, zeigte sich auch an den internen Diskussionen der Redaktion des STANDARD. Wir stritten diesmal nicht über einen Text, den jemand aus der Redaktion geschrieben hatte, sondern über einen Kommentar der anderen, verfasst von der Rechtsanwältin Katharina Braun mit dem Titel "Männer nicht unter Generalverdacht stellen", der im November 2017 auf der Meinungsseite des STANDARD veröffentlicht wurde.

Wieder gab es einen E-Mail-Verkehr im Anschluss an die Print-Online-Kritik. Den Anfang machte Außenpolitikredakteurin Anna-Giulia Fink: "Mich hat es wahnsinnig geärgert, dass wir diesen KDA hatten. Es geht nicht darum, dass es eine Gegenmeinung ist, es soll natürlich Raum für andere Ansichten und Blickwinkel in der Debatte geben, aber diesen Text fand ich einfach nur plump."

Auch Chronikredakteurin Christa Minkin sprach sich nachträglich gegen die Veröffentlichung des Textes aus. Ihre Begründung: "Dieser KDA ist keine Gegenmeinung, sondern betreibt Täter-Opfer-Umkehr. Die Autorin unterstreicht jene in der Gesellschaft leider nach wie vor festgesetzten Sichtweisen, die überhaupt erst zu sexuellen Übergriffen führen. Wir sollten so etwas nicht abdrucken, sondern gegen solche Stereotype und Klischees anschreiben und daran arbeiten, sie aufzubrechen."

Unterschiedliche Positionen

Web-Redakteur Georg Pichler: "Der Zugang 'anything goes', egal für welche Meinung, führt unter Garantie zu einer Nivellierung nach unten. Auch KdAs sollten sich nicht nur im Stil, sondern auch in der Argumentationshöhe (!) von Jeannée-Ergüssen und "Krone"-Leserbriefen klar unterscheiden."

Anderer Meinung war naturgemäß der für die Meinungsseite verantwortliche Leitende Redakteur Christoph Prantner. Seine Argumentation: "Wir sollten die Leserinnen und Leser nicht für dumm halten. Sie sind in der Lage, sich selber eine Meinung zu bilden. Dazu müssen wir ihnen allerdings auch unterschiedliche Positionen präsentieren und diese, ja, auch abdrucken – mögen sie nun reflektierter oder unreflektierter sein. Deswegen heißt diese Seite Kommentar der anderen. Wer unsere Kommentare lesen will, muss umblättern. Unsere Richtschnur muss die Blattlinie sein. Nicht mehr und nicht weniger. Und ganz grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass Journalismus kein Aktivismus ist. Wir schreiben etwas auf und nicht gegen etwas an."

Thomas Mayer sekundierte aus Brüssel: "Der STANDARD war immer ein liberales Medium, gedanklich offen und unabhängig nach allen Seiten. Und die KdA-Seite – der Op-Ed Page der "New York Times" nachempfunden – war immer ein besonders wichtiges Element der Zeitung, das den Pluralismus der Gesellschaft abbildete. Es schüttelt mich fast, wenn ich Sätze lese wie: Das sollten wir nicht abdrucken. Bis auf wenige verbotene und strafrechtlich relevante Dinge sollten wir fast alles zur Debatte stellen. Sind da welche im Besitz der absoluten Wahrheit, wollen wir ein milieuorientiertes Meinungsmedium sein?" Der abschließende Beitrag zu dieser Debatte kam von Wirtschaftsredakteurin Renate Graber: "In jedem Fall bin ich im Zweifel der Meinung, dass die Meinungsfreiheit gelten sollte im Meinungsteil."

Was uns vereint

Diese beiden Fallbeispiele beschreiben freilich nicht die einzigen Situationen, in denen im STANDARD ausführlich debattiert wurde. Manchmal reicht ein einziges umstrittenes Wort, das uns den ganzen Tag beschäftigt (besonders dann, wenn ein gewisser Sportredakteur durch die ständige Wiederholung eines mutmaßlichen Aufregers das Level der Erregung hochhält). Wir versuchen die Meinungsvielfalt innerhalb der Redaktion auch durch Formate wie "Pro und Contra" an unsere Leserinnen und Leser weiterzutransportieren, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selbst ihre eigene Meinung bilden zu können.

Worüber in der Redaktion definitiv nie gestritten wird, ist die Notwendigkeit des Kampfes für die Pressefreiheit und für einen unabhängigen, unbeugsamen und kritischen Journalismus.

Hier passt kein Löschblatt zwischen die Redakteurinnen und Redakteure. "Dort nachzusehen, wo Dinge im Dunklen geschehen; dort zu recherchieren, wo es gilt, die Mächtigen zu kontrollieren; dort nachzufragen, wo Zusammenhänge unklar sind, um die Menschen zu informieren: Das ist der Job von Journalisten. Dafür gibt es die Pressefreiheit, sie erlaubt Redaktionen zu arbeiten, ohne Repressalien der Mächtigen fürchten zu müssen. Eine freie Presse ist die Basis für eine starke Demokratie", schrieb Chefredakteur Martin Kotynek in einem Leitartikel für den STANDARD.

Das ist unser Job, seit Oscar Bronner vor 30 Jahren diese Zeitung gegründet hat. Das wird er auch bleiben. Unbestritten. (Rainer Schüller, 19.10.2018)