Die Bima der Großen Synagoge wurde erst kürzlich freigelegt.

Foto: Milda Jakulytė-Vasil / Andreas Stangl

Der jüngste Fund ist eine spätbarocke Bima, ein Rednerpult in der Synagoge, das der Kanzel einer katholischen Kirche ähnelt. Jon Seligmann von der Israelischen Antikenverwaltung (IAA) präsentierte im vergangenen Sommer diese Entdeckung, womit die Grabungen nach Überresten der Großen Synagoge von Vilnius, der Hauptstadt von Li tauen, einen neuen Höhepunkt erlebten. Jahrhundertelang war die Große Synagoge das Zentrum des aschkenasischen Ostjudentums gewesen. 1944 brannte sie im Zuge von Kämpfen zwischen der Roten Armee und deutschen Verbänden aus.

In den Folgejahren wurde die Ruine von den sowjetischen Behörden schrittweise abgetragen und schließlich dem Erdboden gleichgemacht. Auf dem Areal bauten die Sowjets einen Kindergarten, der später in eine Schule umgewandelt wurde. Seit 2017 arbeitet ein internationales Team von Archäologen im Zentrum der litauischen Hauptstadt an den Ausgrabungen.

Der Fund von Überresten zweier der wichtigsten Elemente des Synagogenkomplexes hat Plänen, an dem Ort eine große Gedenkstätte entstehen zu lassen, jetzt neuen Schwung verliehen. Im Frühjahr hatten die aus Israel, den USA, Deutschland und Litauen stammenden Archäologen und Helfer bereits größere Teile der Mikwe, des rituellen Bades zur spirituellen Reinigung, freigelegt. Daneben wurden zahlreiche Gegenstände gefunden, die noch der wissenschaftlichen Aufarbeitung harren.

Gefunden unter der Schule

Die zweigeschoßige Bima lag direkt unter dem Direktorenzimmer der auf den Trümmern der Synagoge errichteten Schule. Dar über, ob die Sowjets dies mit Absicht so arrangiert haben könnten, möchte der Ausgrabungsleiter Seligmann nicht spekulieren: "Das ganze Gebäude ist sehr eigenartig strukturiert. Außen ist es unscheinbar viereckig, aber innen sind die Korridore diagonal angelegt, sodass die Klassenzimmer in einer Art Zickzackmuster untereinander erreichbar sind." Ob das vielleicht als besonders kinderfreundlich gedacht gewesen sei, sei fraglich.

Das bauliche Rätsel der bis vor kurzem genutzten Schule dürfte ungelöst bleiben. Vor Beginn der Ausgrabungsarbeiten im vergangenen Jahr wurde die Schule endgültig geschlossen. In den kommenden zwei Jahren sind darin noch Workshops für Architekten und Studenten geplant. Dabei sollen Konzeptvorschläge für die Gestaltung einer großen Gedenkstätte im Herzen des ehemaligen Ghettos von Vilnius ausgearbeitet werden. Danach wird das sowjetische Bauwerk selbst Geschichte sein.

Bürgermeister Remigijus Šimašius kündigte bei der Pressekonferenz Ende Juli am Ausgrabungsort die Errichtung einer "respektvollen Gedenkstätte" an. Fertig soll diese spätestens bis zum Jahr 2023 sein, da feiert Vilnius seinen 700. Geburtstag. Auf welche Weise man aber der Großen Synagoge und des Ghettos "respektvoll gedenken" will, darüber herrscht Uneinigkeit. "Es sind noch viele Fragen offen. Alles hängt von den Beteiligten ab, den verschiedenen jüdischen Institutionen, der Stadtverwaltung, den Geldgebern", sagt Seligmann. Möglich sei alles, einschließlich der vollständigen Rekonstruktion der Großen Synagoge.

Dimensionen eines Doms

Die Große Synagoge wurde in den Jahren 1630 bis 1633 errichtet und in den folgenden Jahrhunderten mehrmals erweitert und umgestaltet. Sie hatte die Dimensionen einer Domkirche. Weil sie wegen der damaligen Restriktionen im streng katholisch regierten Großfürstentum Litauen aber nicht höher sein durfte als eine der vielen Kirchen von Vilnius, lagen zwei der fünf Geschoße unter Straßenniveau. Der nun unter der Ex-Sowjetschule wiederentdeckte Boden der Bima lag circa einen Meter über dem Boden der zentralen Gebetshalle, in der allein rund 300 Gläubige Platz hatten. Insgesamt konnte der Komplex, zu dem auch die weithin berühmte Straschun-Bibliothek und der Shulhoyf, eine religiöse Bildungseinrichtung, gehörten, bis zu 5000 Menschen fassen.

Die Idee der Wiedererrichtung des mächtigen Renaissancebaus ist nicht neu. Seit Jahrzehnten geistert sie bereits durch die Köpfe. Neben der Aufbringung der zu erwartenden Kosten (vor Jahren sprach man von rund 30 Millionen Dollar) erhitzt unter anderem die Frage die Gemüter, wie mit dem Andenken an die untergegangene Welt des Ostjudentums prinzipiell umzugehen sei.

Während die einen argumentieren, dass durch einen Wiederaufbau der Synagoge nicht nur ein einzigartiger Tourismusmagnet geschaffen würde, sondern auch dem ehemals bunten jüdischen Leben der Stadt auf lebendige Weise Ehrung erwiesen werden könne, befürchten andere, ein solcher Schritt könne das Andenken an die tausenden Toten des Holocaust durch kommerzielle Motive entweihen. Es sei besser, eine stille Gedenkstätte zu errichten, gekoppelt mit Bildungseinrichtungen.

Säuberungen der Nazis

Bis zum Einmarsch der deutschen Truppen im Sommer 1941 lebten in Litauen rund 220.000 Juden. Der Großteil davon wurde in den Wochen und Monaten danach in den Wäldern von Deutschen und litauischen Kollaborateuren massenweise erschossen. Am 1. Dezember 1941 meldete der für das "Einsatzkommando" in Litauen zuständige SS-Standartenführer Karl Jäger das Land als "judenfrei". Heute leben rund 3000 Juden in Litauen; nicht wenige davon sind Einwanderer aus den USA und Israel. Um das jüdische Erbe in Litauen kümmern sich heute in erster Linie die Nachkommen der aus Litauen geflohenen Überlebenden des Holocaust.

Der Fund der Bima gilt unter Fachleuten und Gläubigen bereits jetzt als Jahrhundertereignis. Der Leiter eines unabhängigen jüdischen Verbandes in Vilnius, Simonas Gurevičius, gab sogar an, geweint zu haben, als er an der Ausgrabungsstelle betete. "Vielleicht war ich der Erste seit den Märtyrern des Holocaust vor 77 Jahren, der an dieser Stelle gebetet hat", sagte er in verschiedenen Interviews.

Auch Seligmann und die Leiterin der jüdischen Gemeinde von Vilnius, Faina Kukliansky, beurteilen den Fund als bahnbrechend für die Realisierung einer großen Gedenkstätte im Herzen des ehemaligen "Jerusalem des Nordens". (Andreas Stangl, 19.10.2018)