Foto: SOS/Maud Veith
Foto: Bianca Blei
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Foto: Bianca Blei
Foto: Bianca Blei

Zuerst zögerlich und dann klammernd greift die junge Frau die Hand des Mitarbeiters der Hilfsorganisation SOS Méditerranée. Vor wenigen Minuten ist ihr eine knallorange Rettungsweste umgelegt worden, die große Teile ihres Jeanshemdes verdeckt. Gemeinsam mit 46 Menschen ist sie aus einem Holzboot gerettet worden. An der Landungsstation des Hilfsschiffs Aquarius versagen ihre Kräfte. Tränen rinnen ihre Wangen hinunter, und immer wieder streicht sie sich die braunen Locken unter das baumwollene Kopftuch.

Es ist der Moment, in dem mir klar wird, dass es auf dem Hilfsschiff der Hilfsorganisationen SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen um Menschen geht – um einzelne Schicksale, nicht nur um Worthülsen und Verallgemeinerungen wie "Gerettete", "Migranten" und "Flüchtlinge". Und dass auch die Besatzungsmitglieder der Aquarius nicht nur Vor- und Nachnamen hinter Zitaten in Medien sind. Aus welchen Gründen sich die Menschen in ein Boot setzten und aufs Meer fuhren, wohin sie reisen wollen – all das ist in dem Augenblick egal, wenn sich die Hände der Geretteten und der Helfer am Landungssteg berühren.

Die Helfer von "SOS Méditerranée" und "Ärzte ohne Grenzen" nehmen Menschen an Bord eines Rettungsbootes.
Foto: Bianca Blei

Glied einer Kette?

Ich drücke den Auslöser der Kamera. Die Stimme in meinem Kopf sagt mir, dass ich meinen Job zu machen habe: die Situation dokumentieren, die Arbeit der Menschen beobachten.

Aber geht es tatsächlich nur darum, Menschenleben zu retten? Ist die Aquarius nicht das Glied einer Kette? Würden die Leute die gefährliche Überfahrt auch wagen, wenn es die privaten Hilfsschiffe nicht gäbe?

Nach und nach stapeln sich die zum Teil feuchten Rettungswesten neben dem Landungssteg auf dem grauen Metallboden des Schiffs. Die Besatzung der Aquarius zieht sie den Leuten nach ihrer Ankunft über den Kopf und wirft sie zur Seite. Zusammengeräumt wird später. Zuerst wird jeder Angekommene von den Krankenschwestern und dem Arzt von Ärzte ohne Grenzen begutachtet. Es wird an den Menschen gerochen, um herauszufinden, ob sie mit Treibstoff in Kontakt gekommen sind. Das könnte zu schweren Verbrennungen auf der Haut führen.

Mit Armbändern in unterschiedlichen Farben, wie sie sonst bei Clubbings ums Handgelenk geklebt werden, registrieren die Helfer die Menschen. Ein rotes mit einer Nummer erhält jeder. Hellblaue Bänder stehen für gefährdete Personen – etwa wenn sie Gewalt erfahren haben oder verfolgt wurden. Weiße Schleifen bedeuten eine ärztliche Überweisung.

Den Menschen werden an Deck die Rettungswesten über den Kopf gezogen.
Foto: Bianca Blei

Suche nach einem Hilfsschiff

Der Einsatz folgt klaren Regeln, es gibt eine strenge Hierarchie. Die Retter von SOS Méditerranée sind für die Rettung im Wasser zuständig. Das medizinische Team von Ärzte ohne Grenzen für die Versorgung der Menschen. Auch die Kommunikationskette ist klar geregelt. Alle werden gleichzeitig über Neuigkeiten informiert. Gerüchte sollen verhindert werden. Nur meine Journalistenkollegen und ich erfahren meistens einige Minuten zuvor durch die Pressesprecherinnen an Bord von Nachrichten. Journalisten und Retter – das wird an Bord klar getrennt.

Auf dem Achterdeck setzen sich die geretteten Männer auf den Boden. Zuvor waren die weißen Plastikseitenteile zugezogen worden, um den Menschen ein wenig Schutz vor Wind und Wetter zu geben. Die Frauen und Kinder schlafen in einem Raum im Inneren des Schiffs. Die Männer kramen in den dunkelblauen Sporttaschen, die einen Satz Gewand und Nahrung beinhalten und atmen durch.

Die Pakistani wurden in der ersten Rettung an Bord genommen: Zehn Männer und ein Minderjähriger.
Foto: Bianca Blei

Ein Pakistani setzt sich neben mich. Er ist drei Tage zuvor gerettet worden. Er habe nach einem Rettungsschiff gesucht, erzählt er. Er habe immer wieder versucht, anhand der Schiffsaufschriften zu entziffern, ob es sich um Helfer handelt. Doch er spricht nur gebrochenes Englisch. Immer wieder sucht er nach den richtigen Wörtern und kratzt sich dabei die Hand an seinen weißen Bartstoppeln. Der Grund für die Suche nach dem Rettungsschiff ist nicht mehr zu erfahren. Ihm sind die Vokabeln ausgegangen. Ob er einfach nur Hilfe benötigte oder gezielt nach den NGO-Rettern gesucht hat, um eine Überfahrt nach Europa zu erhalten, bleibt unklar.

Auch Fouad, der mit seiner Frau und seinen vier Kindern aus Libyen geflohen ist, kannte die Aquarius bereits – aus dem Fernsehen, erzählt er. Er habe aber nicht gewusst, ob sie noch im Mittelmeer unterwegs sei, und wenn, wo sie sich genau befände. Die Überfahrt hätte er so oder so gewagt. Die Angst vor religiöser Verfolgung in seiner Heimat sei zu groß gewesen, das Visum für Europa habe er nicht bekommen. Familien aus Libyen hätten es schwer, gemeinsam in die EU einzureisen. Da sei nur noch der Weg aufs Meer geblieben. Er war bereit, zu sterben, wie er sagt.

Fouad ist mit seiner Frau und seinen vier Kindern aus Libyen geflohen.

Der Pull-Faktor

Ich habe noch immer keine klare Meinung zur Rolle der Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer. Doch nehme ich für einen Moment an, dass die Aquarius tatsächlich ein Pull-Faktor ist – ein Grund dafür, dass Menschen in die teils seeuntüchtigen Boote steigen -, dann eröffneten sich noch mehr Fragen. Vor allem eine: Wie kann man den Kreislauf stoppen? Denn selbst wenn man den Einsatz der Aquarius und aller privaten Hilfsschiffe in der Region unterbindet, würde es eine Zeit dauern, bis die Menschen den gefährlichen Weg nicht mehr antreten würden. Die Nachricht müsste sich erst verbreiten. Wie viele Leben darf man jetzt opfern, um vielleicht künftige Leben zu retten?

Für die Besatzung der Aquarius ist die Antwort klar: keines. Viele der Helfer sind Matrosen, keine humanitären Aktivisten. Für sie ist die Seenotrettung ein hohes Prinzip – ein Ehrenkodex. Sie haben Angst, dass die europäische Politik diesen zerstören könnte. Mit jedem Menschen, den sie aus dem Wasser ziehen, verteidigen sie diesen Kodex, sind sie sich sicher.

Während der ersten Rettung holten die Helfer elf Männer an Bord der Aquarius.
DER STANDARD

Die Seenotrettung fußt auf drei internationalen Abkommen: auf der UN-Seerechtskonvention, dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz menschlichen Lebens auf See und dem Internationalen Abkommen über Seenotrettung. In allen drei Abkommen ist klar, dass jedes Schiff zu einer Rettung verpflichtet ist. Der Kapitän eines jeden Schiffes, ob Containerfrachter, Küstenwachschiff oder Segelboot, muss Menschen in Seenot unverzüglich helfen. Eine Seenotleitstelle koordiniert den Rettungseinsatz und ist für die Bereitstellung eines sicheren Ortes für die Geretteten zuständig – ebenfalls so schnell wie möglich.

Die Matrosen auf der Aquarius haben die Geschichten der Geretteten gehört. Geschichten über Kapitäne, die an den Schiffbrüchigen vorbeigefahren seien, ohne zu helfen. Diese hatten offenbar Angst, dass auch ihren Schiffen tagelang eine Einfahrt in einen sicheren Ort verwehrt bleibt.

Nick Romaniuk versucht auf der Brücke mit den libyschen Behörden in Kontakt zu treten.
Foto: Bianca Blei

Angst vor dem Wegschauen

Doch sollte man den Libyern nicht überhaupt die Rettung in ihrer definierten Such- und Rettungszone überlassen? Sollte es nicht reichen, dass Europa die Küstenwache mit Ausbildern und Einsatzgeräten unterstützt, um Seenotrettungen durchzuführen und zu koordinieren?

Einer, der weiß, dass das nicht geht, ist Nick Romaniuk, Leiter der Such- und Rettungseinsätze auf der Aquarius. Seit drei Jahren ist der Mann mit dem Vollbart und dem ernsten Blick Seenotretter. Davor umsegelte er die Welt und tauchte unter Ölbohrinseln.

Es ist drei Uhr morgens, und Romaniuk hängt am Funkgerät. Die Pressesprecherinnen haben uns Journalisten geweckt, um uns über ein Holzboot in Seenot zu informieren. Wir sitzen auf dem Boden der Brücke und starren auf die Pulte. Fast im Minutentakt versucht Romaniuk, Kontakt zur libyschen Leitstelle in Tripolis aufzubauen. Zuerst mittels der beiden Notrufnummern, dann per Funk und schließlich via E-Mail. Bei Letzterem setzt er auch die Seenotrettungsleitstelle in Rom in CC. Das ist die Leitstelle, die in den vergangenen Jahren traditionell die Einsätze in der libyschen Zone koordiniert hat, weil der zerrissene Staat selbst keine Kapazitäten dafür hatte. Draußen ist es noch dunkel. Die Sonne kämpft sich erst langsam mit den ersten Strahlen über den Horizont. Auf der Brücke der Aquarius stehen Verantwortliche beider Hilfsorganisationen und warten, dass etwas passiert.

Am Landungssteg werden die Geretteten aus den Booten den Helfern an Deck übergeben.

47 Menschen im Holzboot

Schließlich gelingt es Romaniuk doch, Kontakt aufzunehmen – aber erst nachdem ihn die Leitstelle in Rom über ein Schiff der libyschen Küstenwache in der Nähe informiert hat. Es sollen Stunden vergehen, bis die 47 Menschen aus dem Holzboot an Bord sind.

Zuerst wird freundlich via Funk zwischen den beiden Schiffen kommuniziert, dann bricht der Kontakt ab. Die Retter der Aquarius entdecken schließlich die Schiffbrüchigen und schreiten ein, sie nehmen Frauen und Kinder auf ein Rettungsboot.

Dann trifft das libysche Schiff ein. Es wird laut auf der Brücke, drei Stimmen melden sich per Funk. Eine gehört dem freundlichen Beamten, eine dem rauen Beamten und die dritte jenem Beamten, der offen Drohungen ausspricht.

"Wart ihr schon einmal in Tripolis? Wollt ihr, dass wir euch nach Tripolis bringen und mehrere Wochen festhalten?"

Die Übersetzerin, die die steilen Stufen zur Brücke hochgelaufen ist, bleibt ruhig. Übersetzt die arabischen Drohungen ruhig ins Englische und hält dabei das Funkgerät immer wieder weg von ihrem Mund. Sie bleibt höflich und erbittet häufig eine Sekunde Zeit, um für die Verantwortlichen auf der Brücke zu übersetzen.

Romaniuk: "Wir haben Frauen und Kinder bereits an Bord und wollen die Rettung abschließen."

"Wieso habt ihr die Menschen überhaupt an Bord?", meldet sich der raue Beamte.

"Die Leute befanden sich in Seenot. Wir mussten handeln", antwortet Romaniuk.

Links die Aquarius, rechts das Schiff der libyschen Küstenwache, deren Besatzung offen Drohungen ausgesprochen hat.
Foto: Bianca Blei

Nicht auf Küstenwache warten

Läuft so eine professionell geführte Seenotrettung ab? Sollte so eine Leitstelle für Seenotrettungen agieren? Sind das die professionell geschulten Beamten der libyschen Behörde?

Libyens Küstenwache darf private Schiffe nicht von Rettungen fernhalten, außerdem ist eine friedliche Durchfahrt durch internationale Gewässer – und das ist die libysche Such- und Rettungszone – legal. Die Retter müssen auch nicht warten, bis die Küstenwache selbst vor Ort ist, um tätig zu werden. Die Libyer müssten das Schiff mit der Seenotrettung beauftragen, das näher dran ist, auch private. Und Libyen kann keinen "sicheren Ort" zur Verfügung stellen. Es hat einen bewaffneten Konflikt im Land, hat die Genfer Flüchtlingskonvention nie unterzeichnet. Außerdem kann man libysche Flüchtlinge gar nicht in ihr Herkunftsland zurückschicken – nicht ohne ein ordentliches Asylverfahren.

Was ich mich dabei immer wieder frage: Wieso wird um diese Menschen im Wasser so sehr gestritten? Wieso ist es Libyen so wichtig, dass es Schiffbrüchige selbst rettet und zurück nach Libyen bringt? Die Antwort könnten die Millionenhilfen aus Europa sein und der Druck, die Migration mit jedem Mittel zu unterbinden.

Nach Tagen auf Hoher See – bei starkem Seegang – werden die Geretteten den maltesischen Behörden übergeben.
Foto: Bianca Blei

Keine Antwort, keine Antwort

Nachdem die Libyer die Aquarius aus der Such- und Rettungszone geschickt haben, kehrt bei der Besatzung die Angst um das Prinzip der Seenotrettung zurück. Einen Tag nach der zweiten Rettung rufen uns die Pressesprecherinnen in Romaniuks Kajüte. An diesem Abend hat er in einem beispiellosen Vorgehen alle europäischen Seenotleitstellen kontaktiert, um die Rettungen der insgesamt 58 Menschen abschließen zu können.

Sonst wortkarg beginnt Romaniuk jetzt zu reden und stolpert fast über seine Wörter. Er rattert die Liste von Leitstellen runter und fügt bei jedem Ländernamen hinzu: "Keine Antwort." Es muss jemand die Geretteten übernehmen. Rettungen würden verzögert, Leben in Gefahr gebracht, ist er sich sicher. Den Libyern gibt er keine Schuld. Dort herrsche Krieg. Oft sei die libysche Kontaktstelle stundenlang nicht zu erreichen. Bomben könnten auf das Büro gefallen sein, redet er sich in Rage. Und doch würde niemand helfen, sagt er und lässt sich in den Sessel zurückfallen.

Bianca Blei (hinten) auf einem der Rettungsboote, das die insgesamt 58 Geretteten an Bord eines Schiffs der maltesischen Küstenwache brachte.
Foto: SOS/Maud Veith

Es soll noch fast eine Woche vergehen, bis die Geretteten an ein Schiff der maltesischen Küstenwache übergeben werden können – in internationalen Gewässern. Malta verwehrte der Aquarius die Einfahrt in einen ihrer Häfen.

Nach dreieinhalb Wochen an Bord der Aquarius bin ich um viele Fragen reicher, aber nur um wenige Antworten. Sie scheint allen zu gehören. Die Rechten und die Linken verwenden sie für ihre Zwecke, machen sie zu einem Spielball der Debatte über globale Migrationsströme. Aber das Hilfsschiff erfüllt auch eine andere Mission: Es zwingt uns, hinzusehen und Lösungen zu finden. Ohne die privaten Retter würde Europa noch viel weniger darüber erfahren, was vor seinen Küsten geschieht. (Bianca Blei, 14.10.2018)