Wolfgang Blau ist Präsident des internationalen Verlagshauses Condé Nast International – mit Medien wie "Vogue", "Wired" oder "Vanity Fair" im Portfolio.

Foto: Condé Nast

Früher hat man gesagt: Wer Visionen hat, braucht einen Arzt, heute werden Visionäre hofiert. Nicht ohne Grund, denn sie sind rar. Der Deutsche Wolfgang Blau ist einer davon. Wenn der Chef des Verlagshauses Condé Nast International ("Vogue", "Wired", "Vanity Fair") am Montag in Wien bei der europäischen Konferenz "Challenging (the) Content" in einer Keynote seine Vorstellungen für ein digitales Europa skizziert, dann wird er auf das Jahr 2006 zurückblicken. Blau, damals noch Technologiereporter im Silicon Valley, später "Zeit Online"-Chef und Digitalstratege des britischen "Guardian", war bereits vor zwölf Jahren in Wien, um an einer Internetkonferenz im Rahmen von Österreichs EU-Ratspräsidentschaft teilzunehmen. Was sich seither verändert hat? "Alles, die Welt ist eine komplett andere geworden."

In Österreich war 2006 Wolfgang Schüssel (ÖVP) Kanzler, er regierte mit dem BZÖ und dirigierte es. In diesem Jahr wurde auch Twitter gegründet – nicht von Wolfgang Schüssel, sondern von Jack Dorsey, Biz Stone und Evan Williams. Facebook machte 48 Millionen Dollar Umsatz. Heute sind es 40 Milliarden. "Sie sind wie Staubsauger", sagt Blau im Gespräch mit dem STANDARD, "sie kontrollieren mehr als die Hälfte des US-Onlinewerbemarktes und saugen mehr als 90 Prozent des jährlichen Wachstums ab".

Meilensteine pflastern den Weg

Auf dem Weg zu seiner Vision eines digitalen Europas erzählt Blau von Schlüsselereignissen, die seine Wahrnehmung über das Internet verändert haben. Da war zum Beispiel 2008 die Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten, später kam der Arabische Frühling, "wo man viele Geschichten darüber lesen konnte, wie Facebook die Demokratie fördert". Sein nächster Wendepunkt waren 2013 die Edward Snowden Papers, als Blau, zu diesem Zeitpunkt noch beim "Guardian" tätig, selbst an der publizistischen Einordnung der NSA-Affäre mitgearbeitet hatte. Als das Ausmaß der Überwachungsmaschinerie klar wurde, hatten viele das Gefühl: "Uns wurde das Internet weggenommen." Dann kamen auch noch Donald Trump und eine immer größer werdende ökonomische Potenz von Google und Facebook.

Europa hat kein Rezept

Neben den US-Giganten prosperieren chinesische Unternehmen wie die IT-Firmengruppe Alibaba und der Technologieriese Tencent: "Wir leben in einer Welt, in der wir es mit zwei Internets zu tun haben, manche sprechen auch schon vom Splinternet." Auf der einen Seite schalten und walten in der US-getriebenen Sphäre Google, Apple, Facebook oder Amazon und als Gegenpol floriert die chinesische Konkurrenz wie die Suchmaschine Baidu oder eben Alibaba und Tencent. "Meine Sorge für Europa, aber auch Afrika, Lateinamerika, oder den Mittleren Osten ist, zwischen diesen zwei Riesen aufgerieben zu werden." Europäische Plattformen in dieser Größenordnung seien weit und breit keine in Sicht: "In den Modegeschäften in Paris oder woanders steht jetzt schon: We accept Alipay." Das Onlinebezahlsystem der Alibaba Group ist auch in Europa auf dem Vormarsch.

Der Kontext hat sich seit 2006 dramatisch geändert, sagt Blau: "Das Internet wurde militarisiert, in eine Waffe verwandelt, die gegen unsere Demokratien, gegen Journalismus, ja sogar gegen gesellschaftlichen Zusammenhalt gerichtet ist." Gezielt verbreitet würden Informationen, die Angst machen und spalten. Und dennoch: "Man kann in großes Wehklagen verfallen, ich persönlich finde, dass das Internet im Wesentlichen gut war und ist – für Kulturschaffende, Handel, Politik, aber auch für Journalismus und für die europäische Integration."

Vergangenheit als Inspiration

Zu den Internet-Apologeten von 2006 gehörte auch der damals 38-jährige Wolfgang Blau: "Wir waren nicht naiv, haben viele dieser Themen schon damals diskutiert. Was wir nicht getan haben: Wir haben nicht groß genug gedacht, nicht in Extremen. Positiv wie negativ." Zwölf Jahre später soll sich das ändern. Bevor der heute 50-Jährige seine Ideen präsentiert, wo Europa seinen Platz zwischen den USA und China finden kann, blickt er noch weiter in die Geschichte zurück: "Die Vergangenheit wiederholt sich nie, sie kann uns aber zumindest inspirieren, größer zu denken."

Groß wird es, wenn Blau den Vergleich mit der Erfindung der Druckerpresse bringt: "Sie wird als etwas Positives assoziiert, was sie heute auch ist. Die Folge waren Bildung, die Renaissance und die Verbreitung von Wissen." Aber: "Was die Druckerpresse ursprünglich angerichtet hat, war ganz ähnlich zu dem, worunter wir heute leiden, wenn wir etwa über die negativen Aspekte von Social Media sprechen." Der Buchdruck ermöglichte erstmals das massenhafte Verbreiten von Aberglauben, Pamphleten oder Cartoons: "Es gibt jedenfalls eine direkte Verbindung zwischen der Druckerpresse und dem Dreißigjährigen Krieg." Trotz aller Segnungen habe diese Innovation "zunächst zu einem kompletten Zerbrechen des gesellschaftlichen Konsensus geführt". Eine Analogie zu den negativen Seiten der Social Media: "Das sind Begleiterscheinung einer neuen Medien- und Kommunikationstechnologie."

Protektionismus lähmt Initiative

Mit der digitalen Agenda Europas geht Blau hart ins Gericht: "Meistens ist es ein Thema von Protektionismus. Manchmal im Gewand der Urheberrechtsreform oder im Gewand des Konsumentenschutzes." Beides seien berechtigte Anliegen, genauso wie der Wunsch nach Regulierung, aber: "Regulierung und Gesetzgebung sind wie Dünger, richtig angewendet wirken sie Wunder für Wachstum." Die Dosis macht das Gift. Von Plänen, ein europäisches Suchmaschinenpendant zu Google oder eine Social Media Plattform wie Facebook zu gründen, hält Blau wenig: "Das Problem der Suche ist genauso gelöst wie das der Distribution von Inhalten."

Vielfalt als Chance und Problem zugleich

Während Start-ups in den USA von einem einheitlichen Marktplatz profitieren, laboriere Europa an unterschiedlichen Regularien. Vor allem aber an seiner sprachlichen Fragmentierung, selbst wenn die großen Themen wie Copyright, Konsumentenrechte oder Investitionssicherheit vereinheitlicht würden: "Am Ende haben Sie es in der EU immer noch mit einem hochfragmentierten Sprachraum zu tun, in dem keine einzige Sprache mehr als maximal 50 Prozent der adressierbaren Onlinebevölkerung erreicht und maximal 20 Prozent, wenn Sie die Menschen in ihrer jeweiligen Muttersprache erreichen möchten." In Europa gebe es 24 offizielle Sprachen, nur: "Viele davon sind schon heute unsichtbar, wenn Sie sich wesentliche Softwarepakete und Betriebssysteme ansehen." Was Europa brauche, sei maschinelle Übersetzung von Sprachen: "Egal ob in Kroatien oder Österreich: Gäbe es die Möglichkeit, alle Produktbeschreibungen eines E-Commerce-Unternehmens oder zum Beispiel auch journalistische Inhalte sofort in alle Sprachen Europas automatisch zu übersetzen, würde das ganz neue Möglichkeiten eröffnen und auch der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit helfen."

Maschinelle Übersetzung sei der "letzte sichtbare Flaschenhals", denn: "Gegen Google oder Baidu anzutreten, ist zu spät." Dass so eine Software entwickelt würde, stehe außer Frage: "Sie sollte aber aus Europa kommen." Um die finanzielle Basis für so eine Innovation zu schaffen, könnte ein Forschungsverbund installiert werden, der sich aus Geldern der EU-Mitgliedsstaaten speist: "Da reden wir aber nicht über Investitionen im Bereich von 100 oder 200 Millionen Euro, sondern es geht um sehr viel größere Beträge."

Fake News erst am Anfang

Seiner Vision des "Think Big" im Positiven, stellt Blau ein großes Bedrohungsszenario gegenüber: nämlich Manipulation: "Alles, was wir bis jetzt im Bereich Fake News gesehen haben, wird uns bei der nächsten US-Präsidentschaftswahl schon äußerst harmlos vorkommen", sagt Blau und nennt etwa den Einsatz von Deepfakes – also täuschend echt wirkende Bilder oder Videos, die via künstlicher Intelligenz generiert werden. "Der Angriff auf Vertrauen und die Glaubwürdigkeit wird Ausmaße erreichen, die wir uns nicht vorstellen können."

Eine Art Schutzwall können öffentlich-rechtliche Rundfunkanbieter bieten: "Das ist ein Dienst, den sie dem gesamten Medienökosystem ihres Landes zur Verfügung stellen sollen. Verifizierung und Falsifizierung unter Zeitdruck." Gerade in Zeiten wackelnder Geschäftsmodelle für investigativen Journalismus seien starke öffentlich-rechtliche Nachrichtenangebote "essenziell für die Zukunft unserer Demokratien". Facebook sei der Ort der Desinformation, deswegen: "Sie sollen auch im Internet, oder eigentlich primär im Internet informieren, weil dort am meisten Nachrichten konsumiert werden." Einen Rückzug öffentlich-rechtlicher Sender von Plattformen wie Facebook, wie es gerade der ORF praktiziert, hält er aus diesem Grund für einen Fehler.

Europas Rolle in der Onlinewelt

Der Beitrag, den Europa für die Weiterentwicklung des Internets leisten könne, ist die "Schutzmacht des offenen Internets zu sein, was Standards und Open Source angeht und der Welt die Translation-Api, also die Software-Schnittstelle für maschinelle Übersetzung anzubieten", sagt Blau: "Machen es wir nicht, macht es China." Diese Maschinenübersetzung werde zum Segen für viele werden, aber auf der anderen Seite genauso wie einst die Druckerpresse zu gesellschaftlichen Verwerfungen führen: "Wenn alle Web-Inhalte der Welt in ihrer eigenen Sprache verfügbar sind, werden Sie auch auf Propaganda, Missinformation stoßen, die vorher gar nicht sichtbar war. Der Pegel von wertvoller Information – wie auch von Desinformation – wird durch maschinelle Übersetzung also weiter ansteigen. Keine Kommunikations- oder Medientechnologie schafft nur Frieden und zivilisatorischen Fortschritt. Für Europa birgt maschinelle Übersetzung jedoch das Potenzial, einen unserer größten Wettbewerbsnachteile zu mindern, unseren Binnenmarkt für digitale Inhalte und Dienstleistungen dramatisch zu vergrößern und auch die Vielfalt unserer Sprachen zu bewahren." (Oliver Mark, 7.10.2018)