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Bürgermeister Domenico Lucano wurde unter Haus arrest gestellt.

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In Italien kam es zu Solidaritätsbekundungen. Auf einem Transparent in Rom ist zu lesen: "Solidarität ist kein Verbrechen".

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Am Dienstag beherrschte das Städtchen Riace im Aspromonte-Gebirge in Kalabrien wieder einmal die Schlagzeilen in ganz Italien: Bürgermeister Domenico Lucano war verhaftet und unter Hausarrest gestellt worden. Er soll der Scheinehe einer von der Ausweisung bedrohten Nigerianerin mit einem Einheimischen zu gestimmt haben. Auch wird ihm vorgeworfen, eine Müllabfuhr mit Eseln ins Leben gerufen zu haben, ohne den entsprechenden Auftrag zuvor öffentlich ausgeschrieben zu haben. In Rom, Mailand oder Neapel kam es umgehend zu Solidaritätskundgebungen.

Lucano ist die treibende Kraft des Modells Riace. Das kleine Bergstädtchen mit seinen alten Steinhäusern hat in den vergangenen 20 Jahren tausende Asylbewerber aufgenommen. Derzeit leben dort rund 600 Migranten und 900 Einheimische. Insgesamt haben hier Migranten aus über 20 Ländern Zuflucht gefunden.

Begonnen hat alles im Sommer 1998, als in der Nähe von Riace ein Segelboot mit 218 kurdischen Flüchtlingen strandete. Der damalige Dorflehrer und Gründer des Vereins Città Futura ("Zukunftsstadt") Lucano setzte sich dafür ein, dass alle Kurden von Riace aufgenommen wurden. Leerstehenden Wohnraum gab es genug: Wegen der Emigration der Einheimischen nach Amerika, Deutschland, in die Schweiz und nach Norditalien hatte Riace seit dem Zweiten Weltkrieg mehr als die Hälfte seiner ursprünglich 3000 Einwohner verloren.

Schule von Schließung bedroht

Lucano, den in Riace alle "Mimmo" nennen, hat damit auf zwei Notlagen reagiert: auf die Not seines aussterbenden Dorfes, wo es Ende der 1990er-Jahre bereits keine einzige Trattoria mehr gab und die Schule mangels Kindern von der Schließung bedroht war; und auf die Not jener, die von Krieg und Armut getrieben nach Europa kommen.

Als die Kurden 1998 kamen, telefonierte Lucano in der ganzen Welt herum, um die Auswanderer um Erlaubnis zu fragen, ob er ihre verlassenen Häuser den Flüchtlingen zur Verfügung stellen könne. Keiner hat abgelehnt. In der Folge renovierten die neuen Bewohner die zum Teil schon halbverfallenen Häuser. Die Schule konnte erhalten werden, auch eine Trattoria gibt es wieder. Die meisten Einheimischen begrüßen das Modell. "Wir haben den Immigranten viel zu verdanken, sie haben unsere Stadt wieder mit Leben gefüllt", so Barmann Alessio.

Stimmungsumschwung in Italien

Das Vorzeigeprojekt ist in den letzten Jahren aber zunehmend unter Druck gekommen. Die staatlichen Gelder flossen schon unter den sozialdemokratischen Regierungen plötzlich nur noch spärlich oder gar nicht mehr. Die Staatsanwaltschaft von Locri eröffnete gegen den Bürgermeister sogar ein Ermittlungsverfahren wegen betrügerischer Verwendung öffentlicher Gelder. Der wichtigste Grund für den Stimmungsumschwung war die Ankunft hunderttausender Flüchtlinge in den vergangenen Jahren.

Die Vorwürfe gegen den 60-jährigen Lucano hatten sich schließlich als haltlos erwiesen. Mit seinem Engagement und seinen unzähligen Projekten habe der Bürgermeister vielleicht teilweise die Kontrolle über die verschiedenen Geldflüsse verloren, aber kein einziger Euro sei in undurchsichtige Kanäle geflossen, hieß es in einem Untersuchungsbericht.

Doch mit der Wahl der neuen Regierung aus der Fünf-Sterne-Protestbewegung und der rechtsradikalen Lega hat sich die Lage radikal verändert. "Mimmo Lucano? Der interessiert mich nicht. Der ist eine Null", erklärte der neue Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini, kaum war er Anfang Juni vereidigt worden. Das nach Salvini benannte Dekret zur Sicherheit und Immigration, das die Regierung im September verabschiedet hat, könnte das Aus für das Modell Riace bedeuten.

Integration als Ressource

Mit der Verhaftung des Bürgermeisters ist eine neue Eskalationsstufe erreicht worden. "Italien befindet sich auf dem Weg, ein autoritäres Regime zu werden", erklärte der Antimafiaschriftsteller Roberto Saviano, der sich auch für die Rechte von Migranten einsetzt. Lucano hatte sich – noch vor seiner Verhaftung – ebenfalls einen Reim auf die politischen Attacken gegen ihn und sein Dorf gemacht: Es sei klar, dass das Modell Riace für die neue Regierung ein Ärgernis sei – "denn es ist der Beweis, dass Integration eine Ressource sein kann". (Dominik Straub aus Riace, 4.10.2018)