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Demonstration gegen Taras Borodajkewycz im März 1965: Nach dieser "Affäre" ging auch das offizielle Österreich dazu über, sich gegen den Faschismus zu positionieren.

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Das Auffallendste an Denkmälern", schrieb Robert Musil 1936, "ist, dass man sie nicht bemerkt." So verblasst mit der Zeit die kollektive Erinnerung wie die Inschrift auf solchen Statuen. Wie aber lässt sich dem kulturellen Gedächtnisverlust entgegenwirken? Diese Frage diskutierten vergangene Woche einige Experten. In Krems versammelten sich unter dem Titel "Der Kampf um das Gedächtnis" Historiker, Kulturwissenschafter und Pädagogen zu einem interdisziplinären Austausch. Geladen hatten die Donau-Uni Krems und das Institut für Österreichkunde (IÖK) in Zusammenarbeit mit der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems (KPH).

Wer die Vergangenheit nicht kennt, der versteht auch nicht die Zeichen seiner Zeit zu deuten und zu verhindern, dass sich Fehler wiederholen. Die Schwierigkeit der Erinnerung besteht aber vor allem darin, sich kollektiv zu verständigen, was Teil des kulturellen Gedächtnisses ist. Das Ergebnis dieses Dialogs entspricht nicht immer der historischen Wahrheit. So gibt IÖK-Vorstandsvorsitzender Ernst Bruckmüller zu bedenken: "Je größer die Gruppe wird, desto schwieriger, weil abstrakter, wird das Erinnern." Das sehe man vor allem bei einer der größten Gruppenbildungen: der Nation. Sie sei zwar keine Gesinnungsgemeinschaft wie die Religion, dennoch zeigen sich ähnliche Muster. Glaube nährt sich nämlich häufig aus der Überlieferung: Im modernen Staat erfüllen daher nationale Mythen die Funktion archaischer Stammessagen.

In der Ersten Republik fehlte es an solch einem eigenen Mythos: Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs empfand sich die Mehrheit der Bevölkerung im übriggebliebenen Rumpfstaat zur deutschen Nation zugehörig. Dem deutschen Nationalmythos hatten die Erste Republik und der austrofaschistische Ständestaat nicht viel entgegenzusetzen, sagt Bruckmüller: "Es zeigt sich, dass für die emotionale Widerstandsfähigkeit eines Staatswesens die rationale Bejahung des Staats allein nicht genügt. Es bedarf darüber hinaus eines bestimmten kollektiven Pathos, um die Menschen im jeweiligen Staat hinter der Fahne zu scharen." Ein Beispiel für einen Nationalmythos ist die sogenannte Opferthese, mit der sich Österreich jahrzehntelang als der erste von Deutschland überfallene Staat definierte, anstatt seine Mitverantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen einzugestehen.

Heldenhafte Verteidiger

Heidemarie Uhl von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) führte in ihrem Vortrag aber aus, dass sich dieser Mythos erst allmählich über die Jahre nach dem Unterschreiben des Staatsvertrags gebildet habe: "Die Opferthese war vorerst nur in den ersten Kriegsjahren gesamtgesellschaftlicher Konsens." Ab 1949 jedoch werden die Österreicher in der Wehrmacht nicht mehr verschwiegen, sondern als heldenhafte Verteidiger des Vaterlandes gesehen. Kriegerdenkmäler schießen aus dem Boden, des – als kommunistisch verschrienen – Widerstands wird nicht mehr gedacht. Die Opferthese musste somit erst einmal gesellschaftlich durchgesetzt werden, wie Uhl an verschiedenen Anfang der 1960er-Jahre errichteten "Heldendenkmälern" aufzeigte: Zahlreiche zur Eröffnung aufmarschierende Kameradschaftsbundmitglieder zeigten sich mit Hakenkreuzorden. Dass Österreich ein "Opfer" der von ihnen weiterhin verehrten Wehrmacht gewesen sein soll, stritten sie vehement ab. Zeitungen, die den Geschichtsverlauf aber so interpretierten, wurden als "kommunistische Drecksschleudern" beschimpft, Priester, die im KZ getöteter Glaubensbrüder gedenken wollten, eingeschüchtert.

Als wesentlichen Wendepunkt sieht Uhl die Ermordung Ernst Kirchwegers 1965 im Rahmen der "Affäre Borodajkewycz", infolge deren sich das "offizielle" Österreich verstärkt gegen den Faschismus positionierte und vermehrt der Widerstandskämpfer gedachte. Die eigene Schuld der Nation wurde aber auch für längere Zeit ins deutsche Nachbarland delegiert.

Kino half, die Vergangenheit zu verdrängen

Der Kulturwissenschafter Frank Stern zeigte auf, wie sich nicht nur Dokumentar-, sondern auch Spielfilme als zeitgeschichtliche Dokumente und historische Erinnerungsstücke lesen lassen. Jedoch befindet sich die Bedeutung dieser Artefakte durch ihre Rezeption in einem ständigen Wandel: "Es gibt keine objektiven Bilder, auch wenn es objektive Wahrheiten gibt. In der Beziehung von Leinwand und Zuschauer vollzieht sich ein interaktiver Prozess, indem sich dieses Bild auf individuelle Weise im Kopf mit dem persönlichen Bildarchiv verbindet." Stern zeigte, wie das Kino half, die eigene Vergangenheit zu verdrängen. Stern: "Der Erinnerungsraum Wien mit Stephanskirche, Riesenrad und den guten Menschen aus dem Grätzl wird zur Säule des ungebrochenen Österreichbewusstseins, das nicht an eine Umorientierung von Werten gebunden ist, sondern einfach wieder repariert und aufgebaut wird."

Nachkriegsrealität und kritische Abrechnungen mit den eigenen Verbrechen waren somit nicht zu sehen. Auf der Leinwand erstrahlte stattdessen der Zuckerbäckerkitsch aus den Wien-Filmen vor 1945. Die Bevölkerung versuchte sich krampfhaft an eine Vergangenheit zu erinnern, die nie existiert hatte. Die Operette lieferte den Text dazu: "Glücklich ist, wer vergisst ..." (Johannes Lau, 6.10.2018)