Die mikroskopische Aufnahme zeigt eine menschliche Cochlea nach zehn Wochen Entwicklungszeit. In gelb und grün zu erkennen sind zwei Arten von Haarzellenvorläufern.

Foto: Marta Roccio und Michael Perny/Universität Bern

Bern – Etwa fünf Prozent aller Menschen rund um den Globus leidet an Schwerhörigkeit. Viele Betroffene fühlen sich von ihrem Leiden an den Rand der Gesellschaft gerückt. Zwar lässt sich die Hörfähigkeit mit Hörgeräten oder Implantaten verbessert, doch handelt es sich dabei meist nur um Symptombehandlung. Eine wirksame Therapie der Ursachen gibt es bis heute nur in den seltensten Fällen. Ein Forschungserfolg, Berner Wissenschaftern nun im Fachmagazin "Nature Communications" vorgestrellt haben, könnte dies künftig jedoch ändern.

Dem Team um Marta Roccio vom Department of Biomedical Research (DBMR) der Universität Bern ist es nun in Zusammenarbeit mit weiteren Beteiligten des internationalen Konsortiums "OTOSTEM" gelungen, die Entwicklung von menschlichen Haarzellen, die im Innenohr für die Geräuschrezeption zuständig sind, im Labor nachzuahmen. Damit wird es in Zukunft möglich sein, neue Behandlungsmethoden für Hörbeeinträchtigung direkt an menschlichen Zellen zu erproben.

Vom Schall zum Geräusch

Unsere Fähigkeit zu hören, hängt von der aufeinander abgestimmten Aktivität von zwei spezialisierten Sinneszelltypen in der Hörschnecke (Cochlea) des Innenohrs ab. Die sogenannten Haarzellen fungieren als Schallrezeptoren, indem sie auf Vibrationen reagieren, die durch Geräusche verursacht werden. Die Haarzellen setzen chemische Botenstoffe frei, die wiederum die sogenannten Spiralganglienzellen stimulieren. Diese Zellen bilden den Hörnerv, der die Informationen an das Gehirn weiterleitet, wo diese als Geräusch wahrgenommen werden. Diese Zelltypen sind in einem komplexen Mosaik organisiert. Das ermöglicht uns, verschiedene Schallintensitäten und Frequenzen mit beispielloser Geschwindigkeit und Genauigkeit wahrzunehmen.

Haarzellen und Spiralganglienzellen entstehen sehr früh in der fetalen Entwicklung, etwa in der zehnten bis elften Schwangerschaftswoche. Bereits in diesem Stadium erreichen sie ihre endgültige Zahl. "Wir werden mit rund 15.000 Haarzellen und 30.000 Spiralganglienzellen geboren, von da an nimmt ihre Zahl nur noch ab", erklärt Roccio. Laute Geräusche, Infektionen, Alterungsprozesse oder auch die Belastung durch Giftstoffe wie etwa verschiedene Antibiotika setzen den Sinneszellen fortlaufend zu. Da die Zellen bisher nicht ersetzt werden können, führt ihr Verlust zu einer dauerhaften Hörschädigung.

Vorläuferzellen als Basis

"Wir konnten in unserer Studie zeigen, dass vieles, was wir bereits aus dem Tiermodell kennen, auch für die menschliche fetale Entwicklung der Sinneszellen zutrifft", sagt Roccio. Dank dieser Erkenntnis konnten die Forschenden eine kleine Population von Stammzellen-ähnlichen "Vorläuferzellen" identifizieren, die nach mehrwöchiger struktureller und funktioneller Differenzierung schließlich die Cochlea-Haarzellen bilden.

"Wir haben eine Methodik entwickelt, um diese Vorläufer aus der menschlichen fötalen Cochlea zu isolieren und im Labor schließlich die Bedingungen für die in-vitro-Generierung funktioneller Haarzellen optimiert", meint die Wissenschafterin. Dazu verwendeten die Forscher dreidimensionale Kulturen, auch bekannt als Organoide.

"Bauplan" für individuellere Behandlung

"Die Ergebnisse der Studie stellen eine einzigartige Vorlage für zukünftige Forschungsprojekte auf dem Gebiet dar, um neue Strategien zur Bekämpfung von neurosensorischem Hörverlust zu entwickeln", erklärt Koautor Pascal Senn. Denn die Ergebnisse würden einen "Bauplan" liefern für die Erzeugung von Cochlea-Haarzellen aus anderen, häufigeren Zellquellen, wie beispielsweise pluripotenten Stammzellen, so Senn. Dies werde den Weg für Tests ebnen, die auf patienteneigenen Zelltypen basieren und eine individuellere Behandlung ermöglichen. (red, 2.10.2018)