Zwei Patienten gleichzeitig operieren – das schaffen nicht einmal die Götter in Weiß.

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Der Fall eines hochrangigen Chirurgen am Wiener AKH wird derzeit von einer Sonderkommission der Med-Uni Wien unter die Lupe genommen.

Wie der STANDARD berichtete, scheint der Arzt in dutzenden Fällen in einem Zeitraum von einem Jahr als Hauptoperateur im Spital auf, war jedoch nicht anwesend. Das zeigen Patientenakten, die mit einem Dossier an die Patientenanwaltschaft Wien ergangen sind. In dem Schreiben finden sich Operationsprotokolle, die den Namen des Arztes als Chirurgen zur beinahe selben Zeit an einem Tag sowohl im AKH als auch in einer nahe gelegenen Privatklinik führen. So steht der beschuldigte Arzt laut einem Zwischenbericht des Wiener Krankenanstaltenverbunds bei einer Operation vom 22. März 2017 mit Ende 14.20 Uhr am AKH in einem Protokoll, um 13.30 Uhr soll er aber auch in der Privatklinik operiert haben.

Alarmiert zeigt sich der Rektor der Med-Uni Wien, Markus Müller, der im Sommer die Kommission, zusammengesetzt aus externen Experten und Chirurgen, die "untadelig sind", einberufen hat. Bei Operationsprotokollen, die den Patienten übergeben werden, handle es sich um "gerichtsrelevante Akten", sagt Müller. Denn: "Wenn etwas passiert, will ein Richter als Erstes wissen, wer beteiligt war." In den Fällen, die die Kommission prüft, sei zwar kein medizinisches Problem aufgetreten, doch könne man nicht einfach "zur Tagesordnung übergehen".

Übergabe dokumentieren

Immer wieder, sagt der niederösterreichische Patientenanwalt Gerald Bachinger, gebe es Fälle, bei denen Patienten von anderen Ärzten als ursprünglich vereinbart operiert werden. "Gibt es bei der OP dann Komplikationen, kann das aus haftungsrechtlicher Sicht sehr unangenehm werden", so Bachinger. Für diese Fälle existiert bereits eine Rechtsprechung, nach der die Einwilligung des Patienten dann nicht mehr rechtsgültig ist.

Prinzipiell, so Bachinger, sei es auch in Ordnung, eine Operation, etwa wegen eines Notfalls, mit entsprechenden Anweisungen an einen Arzt zu übergeben. Das müsse aber dokumentiert werden. Unklar ist bisher, weshalb der beschuldigte Arzt sich als Operateur eintragen ließ. Ein Insider, der selbst Chirurg ist, erklärt, dass es sich bei den betroffenen OPs auch um Sonderklassepatienten handelte. Für diese bekommen Ärzte ein Zusatzhonorar (siehe Wissen).

Strenges Regime

Fraglich ist laut Müller zudem, wer sonst noch schuldhaft gehandelt hat, schließlich wurden die Operationen – es handelt sich vor allem um Fälle der Mammachirurgie – am AKH durchgeführt, nur eben von einem anderen Chirurgen. Hier sei zu klären, ob es eine Weisung zur falschen Protokollierung gab oder ob es sich um andere Motive gehandelt hat.

Doch welcher Arzt würde die Operation eines anderen freiwillig und unentgeltlich übernehmen, wenn der Abwesende gut dafür bezahlt wird? "In Krankenhäusern herrscht traditionell auf manchen Abteilungen ein sehr strenges Regime", sagt Bachinger. So würden sich auch bei offensichtlichen Verstößen durch den Chefarzt, etwa der Verpflichtung zum ausgiebigen Händewaschen, die Krankenschwestern nicht trauen, etwas zu sagen.

Auch die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz vermutet strenge Hierarchien hinter den Abläufen: "Das müssen viele gewusst haben, sie haben es entweder resigniert hingenommen oder stehen sehr unter Druck."

Spitze des Eisberges

Vom aktuellen Fall am AKH wenig überrascht zeigt sich Claudia Wild, Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Health Technology Assessment und Mitglied von Transparency International. "Das ist nur die Spitze des Eisberges, der klar einen Systemfehler aufzeigt", betont die Korruptionsexpertin. Denn leitende Ärzte handeln mit ihrem Arbeitgeber häufig die Erlaubnis für einen Nebenverdienst aus. Zusätzlich zu ihrem Hauptberuf, der vom Steuerzahler finanziert wird, gehen sie einer lukrativen Nebentätigkeit in einer Privatklinik oder einer eigenen Ordination nach.

"Diese Praxis ist am Wiener AKH Usus", sagt Wild. Auch der Rechnungshof kritisiert diese Privathonorare seit Jahrzehnten, geändert habe sich bisher wenig. "Es sollte ein Nebenbeschäftigungsverbot geben oder zumindest ein Controlling, dass Ärzte während ihrer Arbeitszeit im Spital anwesend sein müssen", fordert Wild.

Auch Bachinger ist der Meinung, dass bei Ärzten Zuverdienste ähnlich klar und rigide geregelt sein müssten wie bei Piloten oder anderen Berufsgruppen: "Man bekommt ein ordentliches Gehalt, dafür konzentriert man sich voll auf eine Tätigkeit. Piloten können ja auch nicht bei der AUA fliegen und dann in ihrer Ruhezeit beim Billigflieger." Pilz fordert, dass Privatpatienten im "eigenen Haus", also im öffentlichen Spital, behandelt werden und nicht in Privatkrankenhäusern. Das schade auch dem Unternehmen, im vorliegenden Fall dem AKH. "Üblicherweise darf niemand nebenher für die Konkurrenz arbeiten."

Schwere Manipulationen

Die Schwere der Manipulationen im vorliegenden Fall überrascht auch die Patientenanwälte. Nur durch vollständige und richtige Dokumentation könnten Vertrauen und Glaubwürdigkeit im Gesundheitswesen aufrechterhalten werden, sagt Bachinger. Das sei auch ein Instrument für die Ärzte: "So können sie ihre Vorgangsweise den Patienten gegenüber argumentieren." Dem betroffenen Arzt droht nun möglicherweise ein Disziplinarverfahren. "Durch die Übertretung des Krankenanstaltengesetzes könnte es auch zu massiven Sanktionen bis hin zu einer fristlosen Entlassung kommen", so Bachinger.

In den nächsten Tagen soll der Bericht der Kommission der Med-Uni, die für das AKH-Personal zuständig ist, vorliegen. Auf diesen wartet auch das Wissenschaftsministerium, das laut Müller über den Fall informiert wurde; ebenso die Ärztekammer.

Klare Täuschung

"Alle Patienten, auch die pflichtversicherten, haben einen Anspruch darauf zu wissen, wer sie operiert hat", sagt Pilz. Wichtig zu wissen ist, ob die Betroffenen darüber informiert waren, wer ihre OPs durchgeführt hat – "falls die Auskünfte falsch waren, ist das eine klare Täuschung". Sie erwartet vom KAV und der Med-Uni Wien, dass die Patienten kontaktiert werden und ihnen empfohlen wird, sich an die Patientenanwaltschaft zu wenden. Mit einer Vollmacht der Patienten könne man die Unterlagen dann vom AKH anfordern und die Fälle prüfen. (Günther Brandstetter, Oona Kroisleitner, Bernadette Redl, 1.10.2018)