Hat eine Dystopie geschrieben, die nicht auf Effekte setzt, sondern innere Prozesse beschreibt: der ehemalige Popliterat Eckhart Nickel.

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Eckhart Nickel, "Hysteria", € 22,70 / 240 Seiten. Piper: München 2018.

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Nach den Gründen gefragt, warum er im Jahr 2004 einen gutdotierten Job und den schönen Titel "Editor at Large" beim Männermagazin Gentlemen’s Quarterly aufgegeben habe, sagte Eckhart Nickel später einmal, er habe sich damals leer gefühlt und gespürt, dass er sich durch die Fixierung auf die Hochglanzwelt existenziellen Schaden zufüge. Also ging er mit seinem Spezi Christian Kracht nach Kathmandu, um von dort aus zwei Jahre lang die Zeitschrift Der Freund herauszugeben.

Anschließend ist es um den Vielherumgetriebenen still geworden, der Anfang der 2000er-Jahre unter anderem mit Kracht Mitglied des "Popliterarischen Quintetts" war, das in der Suite eines Luxushotels über die Welt der Goldcard-Besitzer, Anzugträger und Kokskreativen sinnierte.

Vergangenes Jahr wurde Nickel dann plötzlich zum Bachmannpreis eingeladen, um dort im feinen Zwirn den Anfang seines in Arbeit befindlichen Romans Hysteria zu lesen. Man hätte damals von Nickel einiges erwartet, aber nicht einen Anfangssatz wie: "Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht." Sowieso wurde klar, dass es der 1966 geborene Autor in Klagenfurt nicht darauf anlegte, mit seinem stilistisch ausgefeilten Text als Popliterat abgebucht zu werden – obwohl er mit Oberflächenphänomenen spielte. Letzteres aber nur, um deren apokalyptische Tiefen freizulegen.

Kein Grund zur Gelassenheit

Dieser Tage ist nun der fertige Roman Hysteria (22,70 Euro, Piper) erschienen, dem Nickel eine Passage aus Ernst Jüngers autobiografisch gefärbtem Roman Afrikanische Spiele vorangestellt hat. Hauptfigur ist ein gewisser Bergheim (Jüngers Hauptfigur hieß Berger), auf den wir treffen, während er sich auf einem Gemüse- und Fleischmarkt umtut. Wäre dieser Bergheim entspannter, müsste man ihn einen Flaneur nennen. Zur Gelassenheit hat der ehemalige Student der Kulinarik indes wenig Grund. Nicht nur weil mit besagten Himbeeren etwas nicht stimmt, sondern weil vielmehr alles aus dem Ruder gelaufen ist. Was genau, wird erst am Romanende angedeutet. Distanziert in der Er-Form erzählt, lehrt das Buch den Leser von der ersten Seite an das Fürchten – und das Staunen.

Das Fürchten, weil eine scheinbar freie, aber total regulierte Zukunftswelt skizziert wird. Und obwohl oder gerade weil eine von Ökofundamentalisten geführte Naturpartei die Macht übernommen hat, ist in diesem Roman fast alles künstlich, oder synthetisch hergestellt. Das Staunen hingegen lernt man durch den Wahrnehmungsfuror des hypersensiblen Bergheim und die Detailfreude, mit der geschmeckt, betrachtet, gefühlt und berochen wird.

Fruchtdetektive

Das Schicksal lenkt den Fruchtdetektiv Bergheim schließlich in ein unheimliches "Kulinarisches Institut". Dort führt Nickel nicht nur verschiedene Erzählstränge um Bergheims Freund Ansgar und die ehemalige Geliebte Charlotte zusammen, die im Verlauf des Buches in Rückblicken erzählt werden, er inszeniert auch einen großen, überraschenden Showdown.

Das Gemisch aus Detektivgeschichte, Schauerliteratur und mit zahlreichen Zitaten (E.T.A. Hoffmann, Ernst Bloch, Rousseau) gespickter philosophischer Erzählung über Natur, Kunst, Ästhetik und Künstlichkeit zündet nicht in allen Passagen des Romans. Seine Lektüre lohnt trotzdem, dies nicht zuletzt, weil es der Autor sprachlich schafft, das gegenwärtig gern bediente Genre der Dystopie subtil zu hintertreiben.

Zerfall, Totalitarismus und Auflösung werden in Hysteria nicht effektvoll im Äußeren beschrieben, sondern in ihren Auswirkungen im Inneren der Seelen gezeigt. Die damit verbundene Frage, ob man ausschließlich glauben soll, was man sieht, stellt der Roman an mehr als einer Stelle. Er beantwortet sie kurz: keinesfalls! (Stefan Gmünder, 23.9.2018)